Organe kennen kein klares Geschlecht – Neue Studie bricht mit alten Annahmen

Die Einteilung in männlich und weiblich greift zu kurz. Forscher entdecken: Jedes Organ trägt ein individuelles genetisches Geschlechtsprofil.

Organe entlarven den Mythos vom klaren Geschlecht

Der menschliche Körper zeigt kein einheitliches biologisches Geschlecht – eine neue Studie belegt: Jedes Organ trägt ein individuelles Mosaik geschlechtsspezifischer Merkmale. © DALL-E

Männlich oder weiblich – diese Unterscheidung scheint auf den ersten Blick eindeutig. Sie prägt den Alltag, die Gesellschaft und auch die Medizin. Selbst im Inneren unseres Körpers, etwa in Herz, Leber oder Gehirn, gehen viele von klaren Unterschieden zwischen Mann und Frau aus. Doch genau das stellt eine neue Studie jetzt in Frage. Forscher vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie und der Peking University zeigen: Das Geschlecht prägt Organe nicht so eindeutig, wie bislang angenommen.

Nur Keimzellen und Geschlechtsorgane sind eindeutig

Eizellen und Spermien sind klar unterscheidbar. Auch Hoden und Eierstöcke lassen sich eindeutig zuordnen. Doch in anderen Organen verschwimmen die Unterschiede. Herz, Leber, Nieren oder Gehirn zeigen geschlechtsspezifische Merkmale in unterschiedlich starker Ausprägung.

Die Forscher analysierten dazu Tausende Genaktivierungen in Organen von Menschen und Mäusen. Das Ergebnis: Fast jedes Organ enthält Merkmale, die entweder eher männlich oder eher weiblich sind. In ihrer Kombination ergibt sich ein individueller genetischer Fingerabdruck.

Ein Index für die Vielfalt

Zur Veranschaulichung entwickelten die Wissenschaftler den sogenannten Sex-Bias-Index (SBI). Dieser zeigt an, in welche Richtung ein Organ genetisch tendiert. Die meisten Werte lagen nicht an den Extremen, sondern irgendwo dazwischen.

Das bedeutet: Ein Mensch kann ein eher weiblich geprägtes Herz, aber eine männlich geprägte Leber besitzen. Geschlecht ist also kein durchgängiges Prinzip im Körper, sondern variiert von Organ zu Organ.

Individuelle Medizin statt grober Kategorien

Diese Erkenntnis hat konkrete Auswirkungen auf die medizinische Praxis. Medikamente und Therapien werden oft für Männer oder Frauen entwickelt. Doch wenn Organe genetisch unterschiedlich ticken, ist diese Einteilung nicht immer sinnvoll.

Künftig könnte es entscheidender sein, wie ein Organ genetisch programmiert ist – unabhängig vom amtlich registrierten Geschlecht. Das bedeutet:

  • Therapien sollten stärker personalisiert werden.
  • Wirkstoffe müssen differenzierter getestet werden.
  • Die biologische Vielfalt im Inneren des Körpers darf nicht länger ignoriert werden.

Grenzen der Tierversuche

Die Studie zeigt auch, wie stark sich Mäuse vom Menschen unterscheiden. Zwar gelten sie als wichtiges Modell für die Medizin, doch ihre geschlechtsspezifischen Genmuster weichen deutlich ab. Viele Gene, die bei Mäusen nur in einem Geschlecht aktiv sind, zeigen beim Menschen keine klare Tendenz.

Nur wenige Gene wie Xist oder Ddx3y zeigen bei allen untersuchten Arten eine gleichbleibende Geschlechtsprägung. Xist ist bei weiblichen Individuen aktiv und sorgt dafür, dass eines der beiden X-Chromosomen stillgelegt wird – denn Frauen besitzen davon zwei. Ddx3y dagegen liegt auf dem Y-Chromosom und kommt nur bei Männern vor.

Die große Mehrheit der anderen Gene verhält sich jedoch nicht in allen Arten gleich. Ein Gen, das bei männlichen Mäusen aktiv ist, kann beim Menschen ganz andere Muster zeigen – oder gar keine klare Tendenz.

Für die Forschung heißt das: Tierversuche lassen sich nur bedingt auf den Menschen übertragen. Studien mit menschlichen Zellen und Geweben gewinnen deshalb an Bedeutung. Außerdem müssen Tiermodelle künftig sorgfältiger ausgewählt werden, um verlässliche Ergebnisse zu liefern.

Flexibles Erbe der Evolution

Auch evolutionsbiologisch liefert die Studie neue Einsichten. Die genetische Prägung von Organen scheint sich schnell zu verändern. Bereits innerhalb weniger Millionen Jahre wechselten viele Gene ihre Richtung: Was früher männlich war, wurde weiblich – und umgekehrt.

Das passt zu Charles Darwins These aus dem Jahr 1871: „Die Erscheinungsformen der Geschlechter können sich rasch ändern, wenn sie sexueller Selektion unterliegen.“

Wenn selbst Organe kein klares Geschlecht kennen, wirft das Fragen auf. Wie sinnvoll ist es dann, Menschen in männlich und weiblich einzuteilen? Viele gesellschaftliche Debatten beruhen auf dem Gedanken, dass Biologie feste Grenzen setzt. Die neue Forschung zeigt: Diese Grenzen sind durchlässiger, als wir denken.

Kurz zusammengefasst:

  • Unsere Organe haben kein einheitliches biologisches Geschlecht. Jedes Organ zeigt eine eigene Mischung aus genetisch „männlich“ und „weiblich“ geprägten Merkmalen – ein Mosaik, das von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist.
  • Für die Medizin bedeutet das: Weniger Schubladendenken, mehr individuelle Behandlung. Medikamente und Therapien sollten sich künftig stärker am genetischen Profil einzelner Organe orientieren – nicht nur am eingetragenen Geschlecht.
  • Auch die Forschung muss umdenken. Tierversuche mit Mäusen liefern oft keine verlässlichen Ergebnisse für den Menschen, weil geschlechtsspezifische Muster bei ihnen ganz anders verteilt sind.

Übrigens: Selbst unter unseren nächsten tierischen Verwandten gibt es selten echte Alpha-Männchen. Neue Daten zeigen, dass Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern deutlich ausgewogener sind als lange gedacht – mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © DALL-E

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