Forscher schlagen Alarm: Warum hochverarbeitete Lebensmittel wie Chips und Kekse süchtig machen können
Fast 300 Studien belegen: Hochverarbeitete Lebensmittel wie Chips oder Kekse können Suchtmuster auslösen – mit Folgen für die Gesundheit.

Knisternde Versuchung: Schon eine Handvoll Chips kann das Belohnungssystem im Gehirn stärker anregen als manche klassische Droge. © Pexels
Chips, Kekse, Limonade – sie sind günstig, allgegenwärtig und schmecken vielen. Doch was im Alltag wie eine harmlose Versuchung wirkt, kann im Körper ähnlich reagieren wie Nikotin oder Alkohol. Hochverarbeitete Lebensmittel können süchtig machen, warnen jetzt Experten nach der Auswertung von fast 300 Studien aus 36 Ländern.
Das Problem: Obwohl die Symptome klar den Kriterien einer Sucht entsprechen, werden diese Produkte in keinem internationalen Diagnosesystem als eigenständige Abhängigkeit anerkannt. Genau das, sagen die Forscher der University of Michigan, könnte fatale Folgen für die öffentliche Gesundheit haben – vor allem für Kinder.
Politik prüft erstmals Tabak-ähnliche Regeln für Junkfood
In den USA hat sich das Thema bereits in den politischen Alltag geschoben. Seit zwei Jahren befassen sich Kongressanhörungen mit dem Einfluss süchtig machender Lebensmittel auf die rasant steigenden Zahlen chronischer Krankheiten bei Kindern. Ende 2024 folgte eine Klage in Philadelphia: Elf große Hersteller sollen gezielt Produkte entwickelt und vermarktet haben, die auf Abhängigkeit abzielen.
Die US-Gesundheitsbehörden FDA und NIH wollen nun gegensteuern. In einem gemeinsamen Programm – angelehnt an das erfolgreiche Tabak-Regulierungsmodell – sollen klare Vorgaben entstehen, wie Industrie und Werbung künftig eingeschränkt werden können. „Wir haben eine Lebensmittelumgebung geschaffen, die mehr wie Nikotin als wie Ernährung funktioniert – und Kinder sind die Hauptzielgruppe“, schreiben die Autoren der Analyse.
Suchtkriterien identisch mit Alkohol- und Drogenabhängigkeit
Die Diagnosekriterien des DSM, dem internationalen Standardwerk für psychische Störungen, sind eindeutig: Starkes Verlangen, gescheiterte Versuche, den Konsum zu verringern, und weitermachen trotz gesundheitlicher Schäden. Alles Punkte, die auch auf den übermäßigen Konsum von Chips, Keksen oder Limonade zutreffen.
Die Studienlage ist inzwischen umfangreich:
- Fast 300 Studien aus 36 Ländern belegen, dass hochverarbeitete Lebensmittel suchtähnliche Muster auslösen können.
- Weltweit erfüllen rund 14 Prozent der Bevölkerung die Kriterien einer Abhängigkeit – ähnlich wie bei Alkoholmissbrauch.
- In den USA stammen bei Erwachsenen etwa 60 Prozent der täglichen Kalorien aus solchen Produkten, bei Kindern sogar rund 70 Prozent.
Hirnscans zeigen eindeutige Parallelen zu Kokain- und Alkoholsucht
Bildgebende Verfahren liefern den vielleicht eindrucksvollsten Beweis: Bei Menschen, die regelmäßig große Mengen hochverarbeiteter Lebensmittel essen, reagieren die Belohnungszentren im Gehirn ähnlich wie bei Konsumenten von Kokain oder Alkohol.
Der Mechanismus ist dabei oft derselbe: Das Verlangen steigt beim Gedanken an das Essen, die tatsächliche Befriedigung nach dem Konsum fällt geringer aus. Medikamente wie GLP-1-Rezeptor-Agonisten, die eigentlich zur Appetitkontrolle entwickelt wurden, helfen deshalb sowohl bei Esssucht als auch bei klassischer Drogenabhängigkeit.
Gegner verlangen strengere Beweislage – Forscher kontern
Einige Fachleute wollen vor einer offiziellen Anerkennung noch mehr Beweise sehen. Doch die Autoren halten dagegen: Es gebe bereits anerkannte Süchte mit deutlich dünnerer Datenlage. Beispiele sind Lachgasabhängigkeit oder Koffeinmissbrauch – beide finden sich im DSM, obwohl es dazu nur wenige Studien gibt.
„Es ist Zeit, bei hochverarbeiteten Lebensmitteln denselben wissenschaftlichen Standard anzuwenden wie bei anderen Abhängigkeiten“, fordert Coautorin Erica LaFata. Studienleiterin Ashley Gearhardt ergänzt: „Wir sagen nicht, dass alle Lebensmittel süchtig machen. Aber viele hochverarbeitete Produkte sind so konzipiert, dass sie genau das tun.“
Industrie perfektioniert den Suchtfaktor
Die Strategien erinnern stark an die Tabakindustrie:
- Zucker und Fette werden aus ihrer natürlichen Form isoliert, hochkonzentriert und mit Zusatzstoffen kombiniert.
- Verpackung, Geschmack und Konsistenz sind darauf optimiert, den Wiederkauf auszulösen.
- Die Produkte haben mit den ursprünglichen Rohstoffen – etwa Mais oder Soja – kaum noch etwas gemeinsam.
So wie eine Zigarette nur entfernt mit einem Tabakblatt verwandt ist, ähnelt ein gefüllter Keks nur in der Theorie den landwirtschaftlichen Zutaten. Das Ziel: maximale geschmackliche Belohnung bei minimalem Nährwert.
Hochverarbeitete Lebensmittel können süchtig machen – Sucht-Status würde Prävention vorantreiben
Die Forscher sind überzeugt, dass eine Anerkennung als eigenständige Sucht ein Wendepunkt wäre. Dann könnten gezielte Präventionsprogramme, Behandlungsmöglichkeiten und politische Maßnahmen greifen – ähnlich wie bei Tabak. Denkbar wären Werbebeschränkungen für Kinder, verpflichtende Warnhinweise oder höhere Steuern auf bestimmte Produktgruppen.
Ein perfektes Klassifizierungssystem sei dafür nicht nötig, betonen die Autoren. Auch bei Alkohol oder Tabak habe man Schutzmaßnahmen eingeführt, lange bevor alle Unterarten genau definiert waren. „Wenn wir warten, bis jede Einzelheit geklärt ist, verlieren wir wertvolle Zeit – und viele Menschen werden weiter krank.“
Kurz zusammengefasst:
- Hochverarbeitete Lebensmittel wie Chips, Kekse oder Limonade können süchtig machen und Muster auslösen, die den Kriterien für Alkohol- oder Drogenabhängigkeit entsprechen.
- Fast 300 Studien aus 36 Ländern zeigen: Der Konsum ist weit verbreitet, vor allem bei Kindern, und geht oft mit schweren gesundheitlichen Folgen einher.
- Forscher fordern eine offizielle Anerkennung als Sucht, um Prävention, Behandlung und strengere Regulierungen – ähnlich wie bei Tabak – zu ermöglichen.
Übrigens: Frische Zutaten helfen nicht nur beim Sattwerden, sondern lassen auch das Körperfett deutlich schneller schmelzen als Fertigessen aus dem Regal. Eine britische Studie zeigt: Trotz gleicher Kalorien führten minimal verarbeitete Mahlzeiten zu fast doppelt so viel Gewichtsverlust – mehr dazu in unserem Artikel.
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