Harvard-Forscher spüren die vermisste Materie auf, aus der auch wir bestehen

Forscher entdecken mithilfe von Radioblitzen den lange fehlenden Großteil der sichtbaren Materie zwischen den Galaxien.

Rätselhafte, fehlende Materie im Universum aufgespürt.

Diese abstrahierte Darstellung zeigt gewöhnliche Materie im warmen, dünnen Gas des intergalaktischen Mediums, das bisher schwer direkt zu beobachten war. Dichtere Bereiche des kosmischen Netzes sind blau dargestellt, leere Regionen rot. © Jack Madden, IllustrisTNG, Ralf Konietzka, Liam Connor/CfA

Was wir sehen, ist nur ein Bruchteil dessen, was wirklich da ist. Das gilt nicht nur für schwarze Löcher oder dunkle Energie – sondern auch für die ganz gewöhnliche Materie, aus der alles besteht: Sterne, Planeten, Menschen.

Seit Jahrzehnten suchten Forscher nach einer Antwort auf ein kosmisches Paradox: Rund die Hälfte der sichtbaren Materie im Universum ließ sich nicht nachweisen. Sie war nicht in Galaxien, nicht in Sternhaufen, nicht in Gaswolken. Einfach verschwunden – zumindest schien es so.

Jetzt haben Astrophysiker der Harvard University diese Lücke geschlossen. Die Forscher spürten die fehlende Materie im Universum auf – verborgen im scheinbar leeren Raum zwischen Galaxien und Sternen. Der Fund ist ein Durchbruch, der nicht nur unser Bild vom Universum verändert, sondern auch neue Grundlagen für Technologie, Teilchenphysik und sogar die Medizin schaffen könnte.

Radioblitze machen die fehlende Materie im Universum sichtbar

Den Schlüssel zum Durchbruch liefern sogenannte Fast Radio Bursts (FRBs) – extrem kurze, aber hochenergiereiche Radioblitze, die Milliarden Lichtjahre durch das All schießen. Auf ihrer Reise durchqueren sie gewaltige Strecken und treffen dabei auf jede Menge Materie – darunter auch Baryonen, also Teilchen wie Protonen und Neutronen, aus denen normale Materie besteht.

Diese Begegnungen hinterlassen messbare Spuren:

  • Das Licht der Radioblitze wird gestreut und verzögert, ähnlich wie Sonnenstrahlen in dichtem Nebel.
  • Je stärker die Verzögerung, desto mehr Materie lag dazwischen.
Diese Darstellung zeigt einige der 60 in der Studie untersuchten FRBs, die genutzt wurden, um die Reise von Gas durch den Raum zwischen Galaxien zu verfolgen und das kosmische Netz abzubilden. © Jack Madden/CfA, IllustrisTNG Simulations
Diese Darstellung zeigt einige der 60 in der Studie untersuchten FRBs, die genutzt wurden, um die Reise von Gas durch den Raum zwischen Galaxien zu verfolgen und das kosmische Netz abzubilden. © Jack Madden/CfA, IllustrisTNG Simulations

„Indem wir messen, wie sehr die Radiowellen verzögert werden, können wir genau berechnen, wie viel Materie zwischen Quelle und Erde liegt“, erklärt Liam Connor, Astrophysiker an der Harvard University.

69 Radioblitze liefern erstmals präzises Weltbild

Für die Analyse nutzte das Team Daten von 69 Radioblitzen – aus Entfernungen von bis zu 9,1 Milliarden Lichtjahren. Der fernste davon, FRB 20230521B, durchquerte einen enormen Abschnitt des Universums.

Was den Durchbruch möglich machte:

  • Die Forscher konnten die Ursprungsorte der Radioblitze punktgenau lokalisieren.
  • So ließen sich die durchquerten Materiemengen erstmals präzise berechnen.

Neue Radioteleskope treiben Forschung voran

Den Großteil der Daten lieferte das Deep Synoptic Array-110 (DSA-110), ein Netzwerk aus 110 Radioteleskopen in Kalifornien. Weitere Messungen lieferten Teleskope aus Hawaii, Australien und San Diego.

DSA-110 Radioteleskop-Anlage am Owens Valley Radio Observatory. © Vikram Ravi/Caltech/OVRO
DSA-110 Radioteleskop-Anlage am Owens Valley Radio Observatory. © Vikram Ravi/Caltech/OVRO

Bereits in Planung ist das DSA-2000 in der Wüste Nevadas. Es soll künftig jährlich bis zu 10.000 Radioblitze erfassen – und noch genauere Materiekarten des Kosmos erstellen.

Die meiste Materie liegt zwischen den Galaxien

Die Auswertung ergibt:

  • 76 Prozent der gewöhnlichen Materie befinden sich im intergalaktischen Raum – also im scheinbar leeren Nichts zwischen den Galaxien.
  • Weitere 15 Prozent sammeln sich in Gaswolken rund um Galaxien.
  • Nur etwa 9 Prozent stecken in Sternen, Planeten oder Menschen.

„Es ist, als würden wir den Schatten aller Baryonen sehen – mit den Radioblitzen als Lichtquelle im Hintergrund“, sagt Vikram Ravi vom Caltech.

Schlüssel zu neuen physikalischen Theorien

Die Analyse ist mehr als nur eine Kartierung. Sie liefert neue Daten, mit denen sich die Masse extrem leichter Teilchen wie Neutrinos besser bestimmen lässt. Genau hier liegt der Schlüssel zu bisher unbekannter Physik.

Einige Theorien vermuten sogar, dass solche Teilchen mit dunkler Materie oder der Entstehung des Universums zusammenhängen.

Das Team will in den kommenden Jahren tausende weitere Radioblitze vermessen – mit dem Ziel, ein vollständiges Bild der kosmischen Materie zu zeichnen und Antworten auf Fragen zu finden, die über das hinausgehen, was wir heute für möglich halten.

Kurz zusammengefasst:

  • Ein internationales Forscherteam hat mithilfe von Radioblitzen die fehlende Materie im Universum im Raum zwischen den Galaxien nachgewiesen.
  • Etwa 76 Prozent der gewöhnlichen Materie befinden sich im intergalaktischen Raum zwischen den Galaxien, 15 Prozent in den Galaxienhüllen und nur ein kleiner Teil in Sternen und Gas.
  • Die Methode liefert neue Möglichkeiten, auch Eigenschaften winziger Teilchen wie Neutrinos präzise zu bestimmen.

Übrigens: Der Kohlenstoff in unseren Körpern war einst auf intergalaktischer Reise. Wie ein kosmisches Förderband versorgt das Universum Galaxien mit neuem Leben. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Jack Madden, IllustrisTNG, Ralf Konietzka, Liam Connor/CfA

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