13.900 Jahre Isolation schrumpften das Erbgut ganzer Völker bis zum Rand des Kollaps

Die Migration der Menschheit nach Südamerika mündete in vielen erstaunlichen Anpassungen – aber auch einem gefährlichen Mangel genetischer Vielfalt.

Wie die längste Migration der Menschheit ihr Erbgut prägte

Hochlandvölker in Peru und Bolivien weisen genetische Besonderheiten auf, die ihnen das Leben in den Bergen erleichtern. © Unsplash

Ein internationales Forschungsteam hat 1537 Genome aus 139 ethnischen Gruppen sequenziert, die über 27 Länder in Nordeurasien und Südamerika verteilt leben. Ihre Studie zeigt, wie sich die längste Migration in der Geschichte der Menschheit tief in ihr Erbgut eingeschrieben hat – und welche schwerwiegenden Folgen die Isolation für eine Population haben kann.

Migration aus Afrika bis Südpatagonien – länger geht’s nicht

Die Spur dieser Menschen lässt sich laut der im Fachjournal Science veröffentlichten Studie vom Beringia-Korridor über Nordamerika bis nach Patagonien rekonstruieren. Erste menschliche Überreste aus Westsibirien sind 45.000 Jahre alt, aus Nordamerika stammende Funde sind mindestens 23.000 Jahre alt. 

Während des späten Pleistozäns breiteten sich Menschen über Eurasien aus und wanderten schließlich nach Amerika. Diejenigen, die Patagonien an der Südspitze Südamerikas erreichten, vollendeten die längste Migration aus Afrika.

Elena S. Gusareva, Hauptautorin der Studie

Die genetische Spaltung zwischen Nord- und Südamerikanischen Linien erfolgte vor 17.500 bis 14.600 Jahren. Das war noch vor der Öffnung des eisfreien Korridors durch Kanada, durch den sich später viele Gruppen in den Süden aufmachten.

Genetische Anpassung an extreme Lebensräume

Diese lange Migration führte die Menschheit in neue Klimazonen. Der menschliche Körper reagierte entsprechend auf die neue Umgebung. So fanden die Forscher Hinweise auf genetische Anpassungen in arktischen Populationen: Die Inuit, Koryaken und Luoravetlaner zeigen genetische Varianten, die bei der Regulierung der Körpertemperatur von Nutzen sein könnten.

Eine dieser Varianten betrifft das CPT1A-Gen. Diese sorgt dafür, dass bestimmte Fette langsamer abgebaut werden Da Fettgewebe Wärme deutlich schlechter leitet als anderes menschliches Gewebe, speichert es im Umkehrschluss auch besser Wärme – ein klarer Vorteil in der Kälte. Der veränderte Genbaustein kommt in arktischen Bevölkerungen mit einer Häufigkeit von 75 bis 90 Prozent vor.

Andenbewohner passen sich dem Sauerstoffmangel an

Auch bei den Hochlandvölkern in Peru und Bolivien entdeckten die Forscher genetische Besonderheiten. Besonders das EPAS1-Gen – bekannt aus Studien mit Tibetern – ist bei Quechua sprechenden Andenvölkern verbreitet. Es hilft dem Körper dabei, sich an den Sauerstoffmangel in Höhenlagen anzupassen. In der Bevölkerung der peruanischen Hochanden liegt die Häufigkeit der günstigen Variante zwischen 28 und 45 Prozent. In anderen südamerikanischen Gruppen wurde sie nicht gefunden – ein Hinweis auf lokale Selektion.

Forscher identifizieren vier Hauptlinien in Südamerika

Der Studie zufolge spalteten sich die Urahnen der heutigen südamerikanischen Indigenen in vier Gruppen auf: Andenbewohner, Amazonier, Chacoindianer und Patagonier. Dieser Prozess begann bereits vor etwa 13.900 Jahren und war innerhalb weniger Jahrtausende abgeschlossen. Jede dieser Gruppen blieb dabei weitgehend isoliert, da geografische Barrieren wie Berge, Wälder oder Wüsten den Austausch untereinander verhinderten. Das führte zu einem Rückgang genetischer Vielfalt – insbesondere bei Genen des Immunsystems, den sogenannten HLA-Genen.

Die Farben stellen genetische Abstammungen dar, die anhand von Daten aus der Gesamt-Genom-Sequenzierung (WGS) heutiger menschlicher Populationen geschätzt wurden. Die Kreisgröße zeigt die durchschnittliche Nukleotiddiversität jeder Population an. © Science
Die Farben stellen genetische Abstammungen dar, die anhand von Daten aus der Gesamt-Genom-Sequenzierung (WGS) heutiger menschlicher Populationen geschätzt wurden. Die Kreisgröße zeigt die durchschnittliche Nukleotiddiversität jeder Population an. © Science

Durch die Gründungsprozesse in isolierten Regionen entstanden viele sogenannte „Runs of Homozygosity“ (ROHs) – also lange DNA-Abschnitte mit identischen Genkopien. Diese kommen besonders häufig bei den Kawésqar aus Patagonien, in Amazonas-Gemeinschaften und bei Chacoindianern vor. Solche genetische Muster ähneln denen kleiner Inselpopulationen und können gesundheitliche Folgen haben: Je höher die genetische Gleichförmigkeit, desto geringer ist oft die Vielfalt in wichtigen Immungenen – und damit auch die Reaktionsfähigkeit auf neue Krankheitserreger.

Gefahr durch genetische Flaschenhälse

„Eine hohe Vielfalt der HLA-Gene ist wichtig für die Abwehrmechanismen des Körpers“, schreiben die Forscher. Genau diese Vielfalt fehlt vielen der untersuchten Gruppen. Besonders betroffen sind abgelegene Regionen mit geringer Bevölkerungszahl. Die Studie dokumentiert einen Zusammenhang zwischen HLA-Gendiversität und der Häufigkeit von pathogenen Varianten. Insgesamt fanden die Forscher 67.252 klinisch relevante Genveränderungen, darunter 529 als krankheitsverursachend klassifizierte.

„Einige indigene Gemeinschaften, wie etwa die Kawésqar, stehen am Rand des Aussterbens“, warnen die Forscher. Diese alarmierende Einschätzung bezieht sich nicht nur auf kulturelle Verluste, sondern auch auf die genetische Stabilität ihrer Populationen. In den letzten 10.000 Jahren sanken die Bevölkerungszahlen aller hier untersuchten indigenen Gemeinschaften drastisch – manche sogar um bis zu 80 Prozent.

Die neue Genomanalyse offenbart damit eindrucksvoll, wie tief eine einzige Wanderungsbewegung das biologische Erbe ganzer Völker geprägt – und gefährdet – hat.

Kurz zusammengefasst:

  • Die längste bekannte Migration der Menschheit führte von Afrika nach Nordasien, über den Beringia-Korridor nach Nordamerika und schließlich bis nach Südpatagonien.
  • Vor rund 13.900 Jahren spalteten sich dabei vier genetische Hauptlinien in Südamerika ab, die bis heute isoliert geblieben sind.
  • Die Folgen dieser Isolation waren starke genetische Verluste, insbesondere bei Immungenen – manche indigene Gruppen sind heute vom Aussterben bedroht.

Übrigens: Bis vor wenigen Tausend Jahren hatten Europäer noch dunkle Haut – erst mit Ackerbau und veränderter Ernährung kam die Wende. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Unsplash

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