Stress ist nicht dein Feind – wie man ihn sich zum Freund macht
Wer Stress als Feind sieht, leidet. Wer ihn als Verbündeten betrachtet, kann ihn sogar zu seinem Vorteil nutzen. Expertin Sandra Mederer zeigt, warum die Sichtweise den Unterschied macht.

Stress muss kein Feind sein – wer ihn richtig bewertet, kann ihn als wertvollen Verbündeten nutzen. Studien zeigen, dass die innere Haltung entscheidend für die Stressreaktion ist. © Pexels
Stress ist eine Funktion unseres Körpers, die unser Überleben sichert. Ohne Stress wäre die Menschheit schon lange ausgestorben. Stress stellt uns die notwendigen Ressourcen zur Verfügung, die wir in der Vergangenheit brauchten, um vor dem Säbelzahntiger zu flüchten oder zu kämpfen. In der Steinzeit trat eine derartige Situation selten auf und endete nach kurzer Zeit auch wieder.
In unserer modernen Welt sind wir nahezu niemals einer lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt, dennoch empfinden wir regelmäßig Stress, wie eine Studie zeigt. Demnach fühlen sich 51 Prozent der Berufstätigen und sogar 67 Prozent der Studierenden gestresst. Dies hat einen einfachen Grund. Unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob es sich um eine tatsächlich lebensbedrohliche Gefahr handelt oder nur um eine als bedrohlich wahrgenommene Situation.
Der externe Reiz macht nur 10 Prozent aus
Zeitdruck so wie Arbeits- und Lernpensum sind laut der Studie die häufigsten Gründe für wahrgenommenen Stress. Welchen Anteil haben nun diese äußeren Faktoren auf die Stärke der Stressreaktion?
Nimmt eine Person einen Vortrag vor Publikum als aufregend wahr, so ist es für eine andere Person höchst stressverursachend. Die eine Person liebt Hunde, wohingegen eine andere Person bereits aus weiter Entfernung wegen eines Hundes starken Stress verspürt.
Diese einfachen Beispiele zeigen deutlich, wie unterschiedlich Situationen bewertet werden und somit zu Stress oder eben keinem Stress führen.
Der Psychologe Richard Lazarus prägte die Ansicht, dass Stress nicht nur durch äußere Faktoren entsteht, sondern die Bewertung eine entscheidende Rolle spielt. In der Psychologie entwickelte sich daraus die 10/90-Prozent-Regel, die besagt, dass nur etwa 10 Prozent des Stresses vom äußeren Reiz ausgehen und etwa 90 Prozent von der inneren Bewertung. Exakt belegt sind diese Werte nicht, sondern eher metaphorisch zu verstehen.
Als Freund betrachtet, reduziert sich die Stressreaktion
Bewertet man Stress als hilfreich, so ist eine verminderte körperliche Stressreaktion in Form einer geringeren Cortisolausschüttung messbar, zeigte eine Harvard-Studie im Jahr 2012. Dies unterstreicht die 10/90-Prozent-Regel und weist klar daraufhin, dass es unsere eigene Sichtweise ist, die unseren Stress ansteigen oder absinken lässt.
Ganz sachlich betrachtet ist Stress etwas Großartiges, denn ohne ihn gäbe es unsere Spezies nicht mehr. In geringen Mengen führt er dazu, dass wir aktiviert, kreativ und fokussiert sind. Einige Gründe also, um Stress als Freund zu betrachten. Und doch sehen wir ihn oft eher als Feind an.
Die Botschaft hinter Stress ist nicht immer wahr
Stress trägt in sich eine Mitteilung für uns. Sie möchte uns vor einer Gefahr warnen und schützen oder auf ein unerfülltes Bedürfnis hinweisen. Ignorieren wir diese Botschaft, indem wir einfach weitermachen oder versuchen sie wegzuschieben, dann wird sie nur in einer noch lauteren und aggressiveren Art und Weise an uns herangetragen in Form von noch mehr Stress und unangenehmen Gefühlen.
Wollen wir Stress reduzieren oder idealerweise nicht entstehen lassen, dürfen wir unseren Stress als Freund sehen, der uns ständig hilft, Gefahren wahrzunehmen. Verändern wir unseren Blick derart auf Stress, wird die erste Reduktion der Stressreaktion folgen.
Gehen wir dann noch einen Schritt weiter, wird klar: Stress entsteht oft durch unsere eigene Interpretation. Diese basiert auf vergangenen Erfahrungen – etwa wie in den Beispielen mit dem Hund oder dem Vortrag vor Publikum. Hinterfragen wir den Wahrheitsgehalt dieser Wahrnehmung, lässt sich die Stressreaktion noch weiter reduzieren.
Wir sollten Stress somit mehr als einen sehr ängstlichen bis hin zur Panik veranlagten Freund sehen, der uns schützen möchte und den wir an der Hand nehmen dürfen.
Mentale Gesundheit ist die Basis für Erfolg – für Einzelne, Teams und ganze Unternehmen. Als ehemalige Führungskraft in der Digitalwirtschaft kennt Sandra Mederer, Gründerin von MindFarm, die Herausforderungen moderner Arbeit aus erster Hand. Nach einem Burn-out fand sie Wege, wieder gesund und produktiv zu arbeiten – und gibt dieses Wissen heute weiter. Als ICF-zertifizierter Coach (ACC) und Expertin für mentale Gesundheit, Resilienz, Achtsamkeit und produktives Arbeiten unterstützt sie Unternehmen mit praxisnahen Workshops und (Team-)Coachings.
Kurz zusammengefasst:
- Stress ist eine Funktion unseres Körpers, die im Falle einer Gefahr alle Ressourcen bereitstellt, um zu überleben. Dabei reicht es aus, wenn die Bedrohung als lebensbedrohlich interpretiert wird und dies nicht ist.
- Die Stärke der Stressreaktion hängt fast ausschließlich von unserer Interpretation der Gefahr sowie unserer Sichtweise auf Stress ab.
- Stress trägt eine Botschaft über ein nicht erfülltes Bedürfnis oder eine potenzielle Gefahr in sich, wobei der Wahrheitsgehalt der Botschaft zu prüfen ist, da er hauptsächlich eine Interpretation darstellt.
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