Schule ohne Frontalunterricht: Ein Gymnasium bricht mit alten Lernmustern
Der klassische Unterricht hat ausgedient. In Meiningen setzen Schüler ihr eigenes Lerntempo. Lehrer sind nur noch Begleiter.
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Ein Gymnasium in Thüringen setzt auf ein neues Konzept: Statt Frontalunterricht gibt es Tablets, Sofas und individuelle Lernpläne. Ein mutiges Experiment mit großen Erwartungen (Symbolbild). © Pexels
Die Lehrkraft steht vorne, die Schüler sitzen still an ihren Plätzen – so sieht Frontalunterricht seit Jahrzehnten aus. Doch am Meininger Henfling-Gymnasium in Thüringen setzt man zunehmend auf Alternativen zum traditionellen Frontalunterricht. Hier sollen Schüler selbstständiger lernen, ihr eigenes Tempo bestimmen und in einer Umgebung arbeiten, die ihnen am meisten zusagt, berichtet der mdr.
Freie Wahl des Lernorts und -tempos
Der Unterricht beginnt nicht mit einem Lehrervortrag, sondern mit einer einfachen Frage: „Haben alle ihre Hausschuhe an?“ Lehrerin Lisa Weltzien begrüßt so ihre Fünftklässler. Bevor es losgeht, bekommt jedes Kind ein Tablet mit Lernmodulen und einen Zettel mit den heutigen Aufgaben. Statt sich an feste Sitzordnungen zu halten, suchen sie sich einen Lernplatz nach eigenen Vorlieben aus.
Die Schule hat dafür mehrere Räume eingerichtet, die jeweils eine andere Arbeitsatmosphäre bieten. Ein Raum ist für Gruppenarbeiten gedacht, hier darf frei gesprochen werden. Ein weiterer erlaubt nur Flüstern, während im dritten absolute Stille herrscht – ideal für konzentrierte Einzelarbeit. Neben klassischen Tischen stehen auch Sofas und gepolsterte Sitzecken zur Verfügung, die das Lernen in einer angenehmen Umgebung ermöglichen.
Der elfjährige Vince ist begeistert von dem Konzept. Heute steht für ihn ein sogenannter Vortest an, den er selbstständig terminiert hat: „Ich bin oft schneller als andere und finde es dann immer blöd zu warten.“ Auch seine Mitschüler berichten positiv über das neue System. Sie schätzen es, in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten, anstatt auf andere warten zu müssen oder sich gehetzt zu fühlen.
Inspiration aus Österreich
Seit Beginn des Schuljahres werden die Fächer Deutsch, Mathe und Englisch an der Schule in dieser offenen Form unterrichtet. Die Idee stammt aus Österreich, wo eine Schule bereits erfolgreich mit einem ähnlichen Modell experimentiert hat. Lehrerin Lisa Weltzien sieht vor allem in der individuellen Geschwindigkeit einen großen Vorteil. Sie betont zudem, dass sich die Schüler selbst realistische Lernziele setzen sollen: „Das war am Anfang – und ist auch immer noch eine große Herausforderung, aber es klappt in vielen Fällen immer besser.“
Der traditionelle Frontalunterricht hat oft den Nachteil, dass sich Lehrer nach dem Lerntempo der gesamten Klasse richten müssen. Schnellere Schüler langweilen sich, während langsamere Schwierigkeiten haben, Schritt zu halten. Durch das neue Konzept kann jeder individuell lernen, was sich positiv auf die Motivation und den Lernerfolg auswirken soll.
Nicht alle kommen gleich gut zurecht
Doch nicht jeder geht gleich diszipliniert mit der neuen Freiheit um. Einige Schüler berichten, dass sie manchmal weniger schaffen als geplant, weil sie sich leicht ablenken lassen. Statt zwei Aufgaben wird nur eine bewältigt, da sich die Schüler lieber mit anderen unterhalten oder etwas auf dem Tablet spielen. Lehrerin Weltzien und ihre Kollegen wissen um diese Herausforderung. Sie können über die Tablets jederzeit einsehen, wie diese genutzt werden, und falls nötig eingreifen. Trotzdem glaubt sie an den langfristigen Nutzen. Die effektive Lernzeit in diesen Stunden ist der Lehrerin zufolge höher als im normalen Unterricht.
Auch das selbstständige Setzen von Lernzielen erweist sich für viele als schwierige Umstellung. Manche überschätzen ihre Kapazitäten, andere brauchen länger, um zu verstehen, was realistisch für sie ist. Dennoch zeigt sich laut Weltzien eine positive Entwicklung: Die Schüler lernen, Verantwortung für ihren eigenen Lernfortschritt zu übernehmen.
Wissenschaftliche Begleitung durch die Universität Jena
Um das Projekt systematisch zu evaluieren, begleitet die Universität Jena das neue Lehrmodell. Ende des Jahres soll eine erste wissenschaftliche Auswertung stattfinden. Ob das Konzept sich langfristig bewährt, wird sich also noch zeigen. Doch für Lisa Weltzien steht schon jetzt fest, dass das Experiment erfolgreich ist: „Ich finde es einfach toll zu sehen, dass die Kinder das richtig annehmen. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir denen etwas überstülpen.“
Tatsächlich ist das Meininger Henfling-Gymnasium nicht die einzige Schule, die nach Alternativen zum Frontalunterricht sucht. Viele Bildungseinrichtungen experimentieren mit neuen Methoden, um Lernen effektiver, individueller und praxisnaher zu gestalten.
Andere Alternativen zum Frontalunterricht
Bereits etablierte Schulformen wie Waldorf- und Montessori-Schulen verfolgen ähnliche Ansätze. An Waldorfschulen, die auf die Lehren Rudolf Steiners zurückgehen, liegt der Fokus auf einer ganzheitlichen Entwicklung der Schüler. Neben akademischem Wissen wird Wert auf Kunst, Musik und Handwerk gelegt. Montessori-Schulen arbeiten mit speziell vorbereiteten Umgebungen, in denen Kinder eigenständig lernen können. Das Motto lautet: „Hilf mir, es selbst zu tun.“
Auch die Jenaplan-Pädagogik setzt auf eine Abkehr vom traditionellen Unterricht. Hier stehen altersübergreifende Lerngruppen, projektorientiertes Arbeiten und soziale Interaktion im Vordergrund. Statt Noten erhalten die Schüler individuelle Lernberichte, die ihre Fortschritte detaillierter widerspiegeln.
Freinet-Schulen gehen noch einen Schritt weiter: Sie lassen Schüler aktiv an der Gestaltung des Unterrichts mitwirken. Durch eigene Projekte und demokratische Entscheidungsprozesse lernen sie, Verantwortung zu übernehmen und eigenständig Lösungen zu finden.
Der Daltonplan wiederum setzt auf festgelegte Aufgaben, die Schüler in einem vorgegebenen Zeitrahmen eigenständig bearbeiten. Diese Methode stärkt Eigenverantwortung und Zeitmanagement.
Schließlich gibt es die Club-of-Rome-Schulen, die sich globalen Herausforderungen widmen. Hier lernen Schüler nicht nur klassische Schulfächer, sondern beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz.
Ein Modell mit Zukunft?
Das Meininger Henfling-Gymnasium reiht sich mit seinem Experiment in eine lange Tradition von Schulen ein, die sich vom Frontalunterricht verabschieden. Während sich das Modell in Deutschland erst noch bewähren muss, sind die bisherigen Rückmeldungen von Schülern und Lehrern vielversprechend. Die Idee, individuelles Lernen zu fördern und Alternativen zum klassischen Frontalunterricht zu bieten, könnte sich langfristig als richtungsweisend erweisen.
Kurz zusammengefasst:
- Das Meininger Henfling-Gymnasium ersetzt den klassischen Frontalunterricht durch ein offenes Lernkonzept, bei dem Schüler ihren Lernort und ihr Tempo selbst wählen, was ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortung fördern soll.
- Wissenschaftlich begleitet von der Universität Jena, zeigt sich bereits, dass Schüler durch diese Methode motivierter arbeiten, obwohl nicht jeder gleichermaßen mit der neuen Freiheit zurechtkommt.
- Ähnliche Alternativen wie Montessori-, Waldorf- oder Freinet-Schulen setzen ebenfalls auf individualisiertes Lernen statt Frontalunterricht und stärken Eigenverantwortung, kreatives Denken und soziale Kompetenzen.
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