Diesel-Fahrer kennen den teuren Stoff aus AdBlue – jetzt zeigt sich: Er kann ganz ohne Technik entstehen
Harnstoff kann sich spontan an Wasseroberflächen bilden – ohne Hitze, Druck oder Technik, wie Forscher der ETH Zürich jetzt zeigen konnten.

Forscher der ETH Zürich zeigen, dass sich Harnstoff unter natürlichen Bedingungen an der Oberfläche von Wassertröpfchen bildet – ganz ohne technischen Eingriff. © DALL-E
Harnstoff zählt zu den wichtigsten Industriechemikalien überhaupt. Er steckt in Düngern, Medikamenten, Kunststoffen – und in fast jedem Dieselfahrzeug: AdBlue, ein Abgasreiniger, besteht zu 32,5 Prozent aus hochreinem Harnstoff und zu 67,5 Prozent aus demineralisiertem Wasser. Im laufenden Motor spritzt das System AdBlue in die heißen Abgase ein. Dort spaltet sich der Harnstoff in Ammoniak auf. Dieser bindet die giftigen Stickoxide und wandelt sie im Katalysator in harmlosen Stickstoff und Wasserdampf um – Schadstoffe, die sonst in die Luft gelangt wären, werden dabei um fast 90 Prozent verringert.
Harnstoff wird bislang synthetisch hergestellt – aus Ammoniak und Kohlendioxid, bei hohem Druck und über 170 Grad Celsius. Für die Bildung von einer Tonne Harnstoff braucht es bis zu 2,3 Tonnen Dampf und viel Strom. Eine aktuelle Studie der ETH Zürich konnte nun zeigen: Es geht auch anders. An der Oberfläche kleiner Wassertröpfchen kann Harnstoff spontan entstehen – ganz ohne Technik. Möglicherweise lief dieser Prozess schon auf der jungen Erde ab, lange vor dem ersten Leben. Denn Harnstoff gilt als mögliches Schlüsselmolekül bei der Entstehung von RNA und DNA – und damit als Baustein für alles Leben.
ETH-Team beobachtet, wie sich Harnstoff spontan an der Wasseroberfläche bildet
Das Ziel der Forscher war es, zu verstehen, wie einfache Moleküle auf der jungen Erde entstanden sein könnten. Dabei zeigte sich: Die Oberfläche von Wasser wirkt wie ein natürlicher Reaktor. Wenn Kohlendioxid aus der Luft auf Ammoniak trifft, entsteht Harnstoff – ganz ohne äußere Energiezufuhr.
„In unserer Studie zeigen wir einen Weg, wo und wie Harnstoff auf der präbiotischen Erde entstanden sein könnte. Nämlich dort, wo Wassermoleküle mit atmosphärischen Gasen wechselwirken: an der Wasseroberfläche“, erklärt Studienautorin Ruth Signorell von der ETH Zürich.

Wassertröpfchen schaffen perfekte Bedingungen für die Reaktion
Entscheidend ist die Grenzfläche winziger Wassertröpfchen, wie sie etwa in Nebel oder Meeresgischt vorkommen. Dort entsteht ein chemisches Milieu mit verändertem pH-Wert. Diese besondere Umgebung fördert die spontane Bildung von Harnstoff.
„Der bemerkenswerte Aspekt dieser Reaktion ist, dass sie unter Umgebungsbedingungen abläuft – ohne zugesetzte Energie“, erklärt Erstautorin Mercede Mohajer Azizbaig. Auch theoretische Berechnungen der Mitautoren Evangelos Miliordos und Andrei Evdokimov der Universität Auburn stützen dieses Ergebnis. Die Forscher vermuten, dass ähnliche Bedingungen schon vor Milliarden Jahren auf der Erde herrschten.
Baustein für Leben: Harnstoff könnte entscheidend gewesen sein
Harnstoff spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung von RNA und DNA. Diese Moleküle sind unverzichtbar für alles Leben. Lange war unklar, wie erste Bausteine wie Harnstoff überhaupt entstehen konnten – ohne Technik und ohne Zellen.
Die ETH-Studie liefert nun eine schlüssige Erklärung. Sie zeigt, wie ein einfaches, aber zentrales Molekül spontan entstehen kann. Und zwar dort, wo feuchte Luft auf atmosphärische Gase trifft – Bedingungen, wie sie auf der frühen Erde weit verbreitet waren.
Grüne Chemie: Die Industrie könnte profitieren
Die Ergebnisse sind nicht nur für die Grundlagenforschung relevant. Auch die Industrie schaut genau hin. Denn die heutige Harnstoffproduktion erfordert viel Energie: Temperaturen bis 220 Grad, Druck bis zu 250 bar und der Einsatz von Katalysatoren sind Standard.
Für jede produzierte Tonne Harnstoff werden rund 0,58 Tonnen Ammoniak und 0,76 Tonnen Kohlendioxid benötigt. Dazu kommen bis zu 160 Kilowattstunden Strom und große Mengen an Dampf. Eine nachhaltige Alternative wäre daher von großem Interesse.
Die spontane Reaktion, wie sie an Wasseroberflächen abläuft, wäre ein vielversprechender Ansatz. Wenn sich dieser Prozess technisch nutzen lässt, könnte die Industrie Harnstoff künftig umweltschonender und kostengünstiger herstellen. Ohne große Anlagen. Ohne hohen Energieeinsatz.
Kurz zusammengefasst:
- Die Bildung von Harnstoff gelingt unter natürlichen Bedingungen an Wassertröpfchen – ohne Hitze, Druck oder Technik, wie die ETH Zürich nachweisen konnte.
- Diese spontane Reaktion liefert neue Hinweise darauf, wie sich lebenswichtige Moleküle wie RNA und DNA auf der frühen Erde gebildet haben könnten.
- Auch für die Industrie sind diese Forschungsergebnisse relevant: Eine energiearme und klimafreundliche Harnstoffproduktion könnte damit künftig Realität werden.
Übrigens: Die spontane Bildung von Harnstoff ist nicht die einzige Entdeckung, die Wassertröpfchen mit dem Ursprung des Lebens in Verbindung bringt. Forscher der Stanford University zeigen, dass Mikroblitze in Sprühwasser ebenfalls lebenswichtige Moleküle erzeugen können. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © DALL-E