Neue Nervengifte aus dem Wald – Wie Tausendfüßler bald bei Schmerzen helfen könnten
Forscher entdecken in einem Tausendfüßler neue Stoffe, die gezielt auf Nervenzellen wirken und Ansätze für Medikamente liefern könnten.

Klein, glitschig, unterschätzt: Tausendfüßler gehören zu den ältesten Landtieren der Erde – ihr Abwehrsekret könnte künftig als Medikament dienen (Symbolbild). © Wikimedia
Tausendfüßer haben einen schlechten Ruf – ihre vielen Beine schrecken ab und lassen sie schnell als „gruseliges Krabbeltier“ erscheinen. Doch was da unter Laub und Ästen durch den Wald kriecht, könnte medizinisch hochinteressant sein. Die Sekrete der Tausendfüßler enthalten komplexe chemische Verbindungen, die gezielt auf das Nervensystem wirken – mit Potenzial für neue Medikamente gegen Schmerzen und neurologische Erkrankungen.
Forscher der Virginia Tech haben in der Art Andrognathus corticarius, die im Waldgebiet „Stadium Woods“ auf dem Campus lebt, zwei bislang unbekannte Wirkstoffgruppen entdeckt. Die Moleküle zeigen eine erstaunlich komplexe Struktur – das macht sie so spannend für die Wirkstoffforschung. „Diese Verbindungen sind ziemlich komplex – ihre Synthese im Labor wird Zeit brauchen“, sagt Chemikerin Emily Mevers.
Tausendfüßler als Ausgangspunkt für neue Medikamente
Beide Stoffe gehören zu den Alkaloiden – Naturstoffen, die oft starke biologische Wirkungen zeigen. Die Forscher benannten sie nach dem entdeckten Tier: Andrognathanole und Andrognathine. In Tests mit Ameisen zeigten die Verbindungen deutliche Effekte: Die Tiere hielten bei Kontakt mit den Alkaloiden auffällig oft inne, als würde ihr Nervensystem kurz „pausieren“. „Die Alkaloide scheinen das Bewegungsverhalten der Ameisen direkt zu beeinflussen“, heißt es im Forschungsbericht.
Einige der neuen Stoffe interagieren mit dem Sigma-1-Rezeptor – einem Zielmolekül, das auch in der Schmerzforschung beim Menschen untersucht wird.
Tausendfüßler-Gift könnte therapieresistenten Patienten helfen
Wenn ein Tausendfüßler gestört wird, stößt er eine kleine Menge der Substanzen aus. Diese reichen aus, um Ameisen, natürliche Feinde, zu verwirren. Einige dieser Substanzen wirken ähnlich wie bereits bekannte Schmerzmittel, greifen aber an anderer Stelle im Nervensystem an. Das könnte eine Chance sein für Menschen, bei denen herkömmliche Medikamente nicht helfen.
Die Forscher untersuchten die Sekrete mithilfe moderner Analysemethoden. Die chemischen Strukturen sind ungewöhnlich: Heterocyclen mit mehreren Stereozentren, kombiniert mit unterschiedlichen Fettsäuren. So entsteht eine breite Palette an Varianten – jede davon mit leicht anderer Wirkung.
Die Natur als Bauplan: Moleküle mit sieben Schaltern
Auffällig ist die außergewöhnliche Struktur der neuen Substanzen. Manche Moleküle enthalten bis zu sieben Stereozentren – das sind Stellen, an denen Atome in drei Dimensionen unterschiedlich angeordnet sein können. Diese präzise Geometrie entscheidet über die biologische Wirkung. Solche Strukturen lassen sich künstlich kaum herstellen.
Mevers nutzt die chemische Vielfalt unerschlossener Ökosysteme, um neue Ansätze für Medikamente zu finden: „Wir suchen gezielt dort, wo noch niemand nachgeschaut hat“, sagt sie. Ihre Strategie könnte bei Andrognathus corticarius aufgehen.
Mechanismus und Wirkung: Warnstoff und Verwandtschaftssignal
Die Tausendfüßler sondern die Wirkstoffe aktiv über kleine Drüsenöffnungen an ihrem Körper ab – besonders bei Berührung oder Gefahr. So schützen sie sich vor Fressfeinden wie Spinnen oder Ameisen. „Die Tiere setzen die Alkaloide ein, um Raubtiere abzuwehren – und gleichzeitig ihren Aufenthaltsort zu teilen“, erklärt die Forscherin.
Jeder erwachsene Tausendfüßler verfügt über mehr als 100 dieser Drüsenöffnungen. In Summe ergibt sich eine beachtliche chemische Abwehr – mit potenzieller pharmazeutischer Relevanz.
Vom Waldboden ins Labor: Ein langer Weg zur Arznei
Bisher konnten die Stoffe nur in winzigen Mengen direkt aus den Tieren gewonnen werden. Um ihre Wirkung genauer zu untersuchen, braucht es deutlich größere Mengen – und das heißt: aufwendige chemische Synthese.
„Diese Moleküle sind sehr komplex aufgebaut. Das macht sie für die medizinische Forschung spannend, aber auch schwer zugänglich“, so Mevers. Sobald sich die Substanzen im Labor nachbauen lassen, können Forscher ihre Wirksamkeit genauer testen – unter anderem auf Nervenzellrezeptoren, die bei chronischen Schmerzen, Depressionen oder Demenz eine Rolle spielen.
Kurz zusammengefasst:
- Tausendfüßler-Sekrete enthalten Alkaloide, die gezielt am Nervensystem angreifen und Bausteine für neue Medikamente gegen Schmerzen liefern.
- Die Stoffe wirken ähnlich wie bekannte Schmerzmittel, greifen aber an anderer Stelle ins Nervensystem ein und könnten so auch therapieresistenten Patienten helfen.
- Wegen ihrer chemischen Komplexität müssen die Substanzen im Labor nachgebaut werden, bevor ihre medizinische Anwendung weiter geprüft werden kann.
Übrigens: Neben tierischen Substanzen setzt die Medizin der Zukunft auch auf Mikroroboter, die Medikamente gezielt im Körper transportieren. Forscher entwickeln winzige Teilchen, die auf chemische Signale reagieren und selbstständig Tumore ansteuern – mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Rod Waddington via Wikimedia unter CC BY-SA 2.0