Kinder sehen die Welt tatsächlich mit anderen Augen – Unser Blick entwickelt sich über 20 Jahre
Das Blickverhalten entwickelt sich bis ins junge Erwachsenenalter – Kinder sehen anders, weil Erfahrung steuert, wohin die Augen wandern.

Kinder richten ihren Blick häufiger auf Hände oder berührte Objekte, während Erwachsene gezielt nach Informationen wie Texten oder Gesichtern suchen. © Pexels
Wie wir mit den Augen durchs Leben gehen, folgt bestimmten Mustern – denn die Entwicklung von Blickverhalten ist ein langsamer Lernprozess. Unsere Augen springen blitzschnell von einem Punkt zum nächsten: mal zu Gesichtern, mal zu Texten oder bewegten Objekten. Diese unbewussten Blickwechsel, sogenannte Sakkaden, verändern sich über Jahre hinweg – und das deutlich langsamer, als lange angenommen.
Eine neue Studie zeigt: Die Art, wie wir schauen, ist ein Lernprozess, der bis ins junge Erwachsenenalter andauert. Das Blickverhalten verändert sich nicht nur im Kindesalter, sondern reift über fast zwei Jahrzehnte. Kinder sehen anders und das beeinflusst, wie sie lernen, sich orientieren oder die Welt verstehen.
Entwicklung von Blickverhalten – Kinder schauen auf andere Dinge als Erwachsene
Forscher der Justus-Liebig-Universität Gießen haben über 6.700 Menschen im Alter von fünf bis 72 Jahren untersucht. Mit Hilfe einer Eye-Tracking-Station im Gießener Mathematikum konnten sie aufzeichnen, wohin die Teilnehmer beim Betrachten von Alltagsszenen blickten.
Die Daten zeigen klare Muster: Jüngere Kinder schauen vor allem auf Hände oder auf Gegenstände, die gerade angefasst werden. Texte oder symbolische Inhalte interessieren sie weniger. Erwachsene hingegen springen mit dem Blick gezielt zu Informationen, die für sie wichtig erscheinen – etwa Straßenschilder, Bücher oder Gesichter.
Blickbewegungen als Spiegel des Lernens
„Wir waren überrascht, dass erwachsenes Blickverhalten sich so langsam entwickelt – über fast zwei Jahrzehnte“, sagt Studienautor Marcel Linka von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sein Mitautor Prof. Dr. Ben de Haas ergänzt: „Wir vermuten, dass Erwachsene ‚mentale Landkarten‘ für typische Szenen entwickeln, also erfahrungsabhängige Vorstellungen davon, welche Bildelemente wichtig sind und wo sie zu erwarten sind.“ Diese inneren Karten entstehen durch jahrelanges Sehen und Erleben – etwa durch Bücherlesen, Bildschirmarbeit oder Alltagssituationen wie Straßenverkehr.
Warum diese Erkenntnis so wichtig ist
Die Ergebnisse helfen zu verstehen, warum Kinder oft andere Dinge sehen als Erwachsene – buchstäblich. Was für Erwachsene offensichtlich oder logisch wirkt, ist für Kinder nicht zwingend sichtbar.
Das kann Auswirkungen auf viele Bereiche haben. Zum Beispiel in der Schule: Kinder lesen Texte anders, weil sie sie mit anderen Augen erfassen. Oder beim Lernen aus Bildern und Schaubildern. Wer weiß, wie Kinder schauen, kann Lernmaterialien besser gestalten und Missverständnisse vermeiden.
Entwicklung von Blickverhalten: Früh erkennen, gezielt fördern
Das Forschungsteam sieht in den Ergebnissen eine Chance, Kinder besser zu unterstützen – besonders jene mit Lern- oder Sehschwierigkeiten. Eye-Tracking-Technik könnte in Zukunft gezielter eingesetzt werden, um zu analysieren, wie gut ein Kind wichtige Bildinhalte erfasst.
Gerade im Vorschul- oder Grundschulalter kann es entscheidend sein, rechtzeitig zu erkennen, ob ein Kind Blickmuster zeigt, die vom typischen Verlauf abweichen. Dann lassen sich Maßnahmen früher einleiten – zum Beispiel individuelle Lernhilfen oder Sehtrainings.
Wenn wir wissen, wie sich der Blick über die Jahre verändert, können wir besser einschätzen, was Kinder brauchen, um die Welt zu verstehen.
Prof. Dr. Ben de Haas
Erwachsene sehen effizienter – aber nicht automatisch besser
Erwachsene haben klarere Blickmuster. Doch das bedeutet nicht, dass sie mehr sehen. Kinder erkunden ihre Umwelt anders – spielerischer, neugieriger, manchmal auch zielloser. Doch genau das kann helfen, Neues zu entdecken.
Die Forscher betonen: Der Unterschied im Blickverhalten ist kein Defizit, sondern ein Hinweis auf Entwicklung. Und darauf, wie eng Sehen, Denken und Lernen miteinander verbunden sind.
Als nächstes wollen die Wissenschaftler untersuchen, wie kulturelle Unterschiede das Blickverhalten beeinflussen. Schauen Kinder in Japan anders als in Deutschland? Und wie wirkt sich das Medienverhalten auf die Blickentwicklung aus?
Kurz zusammengefasst:
- Die Entwicklung von Blickverhalten dauert deutlich länger als gedacht – sie zieht sich vom Kindesalter bis ins junge Erwachsenenalter und verändert, worauf wir beim Sehen achten.
- Die Justus-Liebig-Universität Gießen wertete Millionen Blickbewegungen von über 6.700 Menschen aus und zeigte, dass Erfahrung den Blick lenkt.
- Das Wissen über diese Entwicklung hilft, Lernmaterialien kindgerechter zu gestalten und kann genutzt werden, um frühzeitig Seh- oder Lernschwierigkeiten zu erkennen und gezielt zu fördern.
Übrigens: Während unser Blickverhalten fast 20 Jahre braucht, um sich zu entwickeln, arbeiten Forscher bereits an der Weiterentwicklung des Sehens – nämlich an Kontaktlinsen, die Infrarotlicht sichtbar machen. Mehr dazu in unserem Artikel.
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