Riesiger Schmelzwassersee lässt das Eis bersten und spaltet Grönlands Gletscher
Ein 21 Quadratkilometer großer Schmelzwassersee auf dem 79°N-Gletscher in Grönland hebt das Eis an und verändert seine Struktur grundlegend.

Eisdicken-Messflug über dem 79-Grad-Nord-Gletscher, Grönland: Die Studie liefert wichtige Daten, um Risse in Eisschildmodelle zu integrieren und zu erforschen, wie sie sich bilden und den Gletscher beeinflussen. © Alfred-Wegener-Institut
In Nordost-Grönland hat sich ein Schmelzwassersee gebildet, der das Eis wie ein Keil aufsprengt. Innerhalb weniger Stunden entleerte er sich mehrfach, das Wasser schoss durch Risse in die Tiefe, hob den 79°N-Gletscher an und hinterließ Spalten, die noch Jahre später sichtbar sind. Der See misst rund 21 Quadratkilometer – eine Fläche so groß wie eine der größten deutschen Talsperren. Jede dieser abrupten Entleerungen verändert die Struktur des Gletschers nachhaltig und beschleunigt den Eisverlust, berichten Fachleute des Alfred-Wegener-Instituts in einer neuen Studie.
Die Folgen solcher Ereignisse reichen weit über Grönland hinaus. Wenn Gletscher durch Schmelzwasser instabil werden, beschleunigt sich ihr Abfluss ins Meer – und damit auch der weltweite Anstieg des Meeresspiegels, der Küstenregionen in Europa direkt betrifft.
Ein Schmelzwassersee verändert das Eis
Seit Mitte der 1990er-Jahre erwärmt sich die Luft in Nordost-Grönland messbar. Genau zu diesem Zeitpunkt tauchten erstmals Seen auf der Oberfläche des 79°N-Gletschers auf. Heute misst der größte von ihnen rund 21 Quadratkilometer. Im Sommer 2015 füllte er sich mit bis zu 123 Millionen Kubikmetern Wasser – damit könnte man mühelos eine Millionenstadt wochenlang versorgen.
Doch das Wasser bleibt nicht oben. Es sucht sich seinen Weg in die Tiefe, reißt das Eis auf und dringt bis an den Grund des Gletschers. Dort wirkt es wie ein Schmierfilm, der das Eis schneller in Richtung Meer gleiten lässt.

Forscher beobachten gefährliche Dynamik
Die Entwässerungen dieses Sees erfolgen nicht gleichmäßig, sondern plötzlich und in immer kürzeren Abständen. 2005 brach das Wasser zum ersten Mal aus, weitere Ereignisse folgten 2012, 2015 und danach fast jährlich. Allein in den letzten fünf Jahren gab es vier Abflüsse.
„In allen Entwässerungsjahren sind charakteristische Muster von Rissen rund um die Moulins zu beobachten. Die Risse verlaufen häufig entlang der Hauptrichtungen der mechanischen Belastung“, berichten die Wissenschaftler.
Die neu entstandenen Spalten haben teils dreieckige Formen mit Kanten von über 200 Metern. Durch diese Öffnungen, die Fachleute Moulins nennen, stürzt das Wasser mit gewaltiger Geschwindigkeit nach unten – die Struktur im Eis bleibt oft jahrelang erhalten.
Wasserblasen heben den Gletscher an
Wenn das Wasser verschwindet, ist das Drama nicht vorbei. Unter dem Eis bildet sich eine Art Blase, die den darüberliegenden Gletscher nach oben drückt. Satellitenbilder zeigen, dass sich das Eis an den Bruchkanten um bis zu einen Meter verschiebt.
„Nach dem Seeabfluss bildet sich eine Blase unterhalb der Seefläche. Diese wird erst im Laufe von mehreren Wochen abgebaut“, erklären die Forscher. Solche Prozesse verändern die Stabilität des Gletschers dauerhaft.

Folgen für den Meeresspiegel
Der 79°N-Gletscher zählt zu den letzten drei großen grönländischen Gletschern mit schwimmender Zunge. Schon heute verliert Grönland jährlich Milliarden Tonnen Eis. Wenn dieser Gletscher instabil wird, beschleunigt sich der Abfluss noch einmal deutlich.
Die Konsequenz: Der globale Meeresspiegel steigt schneller. Schon jetzt wächst er um etwa vier Millimeter pro Jahr – klingt wenig, bedeutet aber langfristig ein enormes Risiko. Selbst wenige zusätzliche Zentimeter machen einen Unterschied, wenn Sturmfluten auf dicht bebaute Küsten treffen.
Das System kippt in einen neuen Zustand
Besorgniserregend ist die Geschwindigkeit, mit der sich das System verändert hat. Innerhalb von zehn Jahren haben sich wiederkehrende Muster der Entwässerungen etabliert. „Das sind extreme Störungen im System“, betont Glaziologin Angelika Humbert.
Die entscheidende Frage lautet nun: Kann der Gletscher überhaupt noch zu einem stabilen Zustand zurückfinden? Oder ist er bereits in eine neue Phase eingetreten, in der plötzliche und unvorhersehbare Entwässerungen zur Regel werden?
Wie Schmelzwasser das Eis verändert – drei zentrale Punkte
Die Studie fasst zusammen, welche Folgen die Vorgänge am 79°N-Gletscher haben können:
- Meeresspiegelanstieg beschleunigt sich: Gelangt das Wasser bis an die Basis des Eises, wirkt es wie ein Gleitmittel. Der Abbau des grönländischen Eisschildes verstärkt sich.
- Instabilität nimmt zu: Die Entwässerungen treten inzwischen in immer kürzeren Abständen auf. Das erhöht das Risiko für großflächige Brüche.
- Unkalkulierbare Dynamik: Innerhalb von zehn Jahren hat sich das Verhalten des Gletschers verändert. Statt gleichmäßigem Schmelzen drohen abrupte, kaum vorhersehbare Ereignisse.
Europa spürt die Folgen des Grönland-Eises direkt an seinen Küsten
Für Europa ist entscheidend: Steigt der Meeresspiegel, geraten auch Nordsee- und Ostseeküsten unter Druck. Hamburg, Bremen oder Amsterdam müssten ihre Schutzanlagen ausbauen. Inseln wie Sylt verlieren bei jedem Zentimeter mehr Wasserlinie wertvolles Land.
Kurz zusammengefasst:
- Seit 1995 existiert auf dem 79°N-Gletscher in Grönland ein rund 21 Quadratkilometer großer Schmelzwassersee, der durch Erwärmung entstanden ist.
- Wiederholte abrupte Entwässerungen haben tiefe Risse, Kanäle und Bruchfelder im Eis gebildet, die teils jahrelang sichtbar bleiben und das Gletscherverhalten verändern.
- Messungen und Modellierungen zeigen, dass diese Prozesse das Eis anheben, großflächig destabilisieren und sich in den letzten Jahren deutlich beschleunigt haben.
Übrigens: Ein neues Klimamodell zeigt erstmals bis auf wenige Kilometer genau, wo Hitze, Starkregen und Dürren künftig am stärksten zuschlagen. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Alfred-Wegener-Institut