Ausgerechnet Lawinen retten Alpen-Eis – Kleine Gletscher verlieren deutlich weniger Masse
Lawinen sind für viele Gletscher überlebenswichtig: Sie bringen frischen Schnee, schützen das Eis und verlangsamen den Schwund.
Lawinen versorgen den Pers-Gletscher in der Schweiz regelmäßig mit großen Schneemengen und verlangsamen so sein Abschmelzen. © Marin Kneib
Lawinen gelten als unberechenbare Naturgewalt. Doch in vielen Gebirgsregionen können sie für das Überleben von Gletschern von entscheidender Bedeutung sein, wie eine Schweizer Studie zeigt. Lawinen liefern frischen Schnee, stabilisieren das Eis und verlangsamen das Abschmelzen. Ohne diese zusätzliche Schneeschicht würden viele Gletscher in wenigen Jahrzehnten verschwinden.
Wissenschaftler der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) haben erstmals weltweit berechnet, wie stark Lawinen zur Schneebilanz von Gletschern beitragen. Ihre Studie zeigt: Etwa drei Prozent des Schnees auf Gletschern stammt aus Lawinen, rund ein Prozent wird durch sie wieder abgetragen – ein Nettogewinn von zwei Prozent. Das klingt wenig, kann aber entscheidend sein, damit Gletscher weiter bestehen.
Lawinen als natürliche Schneelieferanten für Gletscher
Lawinen entstehen, wenn sich große Schneemengen von steilen Hängen lösen und talwärts stürzen. Die herabfallenden Schneemassen lagern sich auf dem Eis ab und verdichten sich zu einer neuen Schicht. Dadurch erhalten Gletscher einen Teil ihres Nachschubs aus höheren Lagen – besonders in Gebirgen wie den Alpen, im Himalaya oder in Neuseeland.
Das Forschungsteam kombinierte für die Studie zwei Modelle: eines für die Bewegung der Gletscher, und eines für die Schneeverlagerung. So ließen sich erstmals alle rund 200 000 Gletscher weltweit erfassen. Das Ergebnis zeigt, dass Lawinen die Schneeverteilung erheblich verändern und vor allem kleine Gletscher stabilisieren.
„Unser Modell zeigt, dass kleine Gletscher dank Lawinen langsamer schrumpfen und länger bestehen bleiben“, sagt Marin Kneib, Glaziologe an der WSL. Besonders in den Alpen könnten Gletscher unter einem Quadratkilometer Fläche drei Mal mehr Eis behalten als bisher angenommen.
Kleine Gletscher profitieren am stärksten
Die Wirkung von Lawinen unterscheidet sich je nach Region:
- In Neuseeland stammen rund 15 Prozent des Schnees auf Gletschern aus Lawinen.
- In Südostasien sind es etwa 11 Prozent,
- in Mitteleuropa rund 9 Prozent.
- Auf flachen Eisschilden in Island oder der Arktis ist der Effekt fast null.
Besonders profitieren kleine, steile Gletscher. In den Alpen schmelzen sie laut Modell selbst bei weiter steigenden Temperaturen deutlich langsamer. Lawinen treffen dort oft die Ränder der Gletscher und lagern frische Schneemassen ab – wie eine natürliche Kühlung.
Bei großen, flachen Gletschern ist der Effekt dagegen gering. Die Lawinen bedecken nur schmale Zonen am Rand, der größte Teil des Eises bleibt unbeeinflusst.
In tropischen Gebirgen beschleunigen Lawinen den Gletscherschwund
Nicht überall sind Lawinen hilfreich. In den tropischen Anden etwa entfernen sie mehr Schnee, als sie liefern. Bis zu acht Prozent des jährlichen Schneefalls rutschen dort von den Gletschern ab. Das beschleunigt das Abschmelzen und kann die Stabilität der steilen Berghänge gefährden.
Auch im Kaukasus und in Teilen Alaskas tragen Lawinen manchmal Schnee aus den oberen Zonen ab, bevor er sich zu Eis verdichten kann. „Lawinen sind kein einheitlicher Faktor. Sie können helfen oder schaden – je nachdem, wo sie abgehen“, erklärt Kneib.
Was bis zum Jahr 2100 erwartet wird
Wie stark Lawinen künftig wirken, hängt vom Tempo der Erderwärmung ab. Die Wissenschaftler simulierten mehrere Klimaszenarien bis 2100:
- In den Alpen steigt der Anteil des Lawinenschnees von 11 auf bis zu 15 Prozent.
- In Neuseeland sinkt er bei starker Erwärmung von 15 auf 3 Prozent, weil dort mehr Regen als Schnee fällt.
- In den tropischen Anden könnte der negative Effekt wachsen – von minus 4 auf minus 10 Prozent im milden Szenario und bis minus 30 Prozent im extremen Fall.
Je wärmer es wird, desto weniger Schnee bleibt in vielen Regionen, der als Lawine nachrutschen kann. In höheren Lagen könnte sich der Einfluss jedoch verstärken, weil sich Gletscher auf steilere Flächen zurückziehen. Dort treffen Lawinen häufiger auf das Eis – mit unklaren Folgen für Stabilität und Abfluss.
Lawinen sichern wichtige Wasserreserven für Landwirtschaft und Energie
Gletscher speichern Wasser und geben es im Sommer langsam wieder ab. Wenn sie langsamer schmelzen, bleibt mehr Zeit, das Schmelzwasser zu nutzen – etwa für Flüsse, Landwirtschaft oder Wasserkraft.
Laut Studie transportieren Lawinen jedes Jahr rund 29 Milliarden Tonnen Schnee auf Gletscheroberflächen – genug, um mehrere große Seen zu füllen. Diese Schneemengen beeinflussen, wie viel Wasser im Frühjahr in die Täler gelangt.
Kurz zusammengefasst:
- Lawinen tragen weltweit rund drei Prozent des Schnees zu den Gletschern bei und entfernen etwa ein Prozent – ein kleiner, aber entscheidender Gewinn, der viele Gletscher länger bestehen lässt.
- Besonders kleine, steile Gletscher in Gebirgen wie den Alpen, im Himalaya oder in Neuseeland profitieren, weil Lawinen dort regelmäßig frische Schneemassen ablagern und das Eis stabilisieren.
- In tropischen Regionen wie den Anden kann der Effekt jedoch umgekehrt wirken, da Lawinen dort häufig mehr Schnee abtragen als sie liefern – ein Risiko für den Erhalt vieler Gletscher in Zeiten des Klimawandels.
Übrigens: In Chile zeigen Forscher, wie dramatisch sich der Verlust von Gletschern auf die Wasserversorgung auswirkt und was das auch für Europa bedeutet. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Marin Kneib
