Gletscher kühlen sich selbst – und beschleunigen damit ihr eigenes Ende

Durch kalte Fallwinde schützen sich Gletscher selbst. Doch genau dieses Prinzip droht sie bis 2040 massiv zu schwächen.

Gletscher kühlen sich ab

Kalte Luft strömt vom Tsanteleina-Gletscher ins Tal und kühlt die Umgebung – ein natürlicher Schutzmechanismus, der durch den Klimawandel an Wirkung verliert. © Thomas Shaw | ISTA

Gletscher stemmen sich gegen die Klimaerhitzung – noch. Sie kühlen aktiv ihre Umgebung, indem sie kalte Luft an ihrer Oberfläche erzeugen und ins Tal leiten. Dieser Effekt bremst die Gletscherschmelze bislang ab. Doch laut neuer Studie des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) erreicht diese Selbstkühlung bald ihren Höhepunkt. Danach fehlt dem Eis die nötige Masse, um sich weiter zu wehren – und der Verlust beschleunigt sich.

Gletscher erzeugen Kälte – aber nur noch für kurze Zeit

Gletscher sind keine starren Eismassen. Sie wirken aktiv auf ihre Umgebung. Wenn Sonnenlicht auf ihre Oberfläche trifft, entsteht dort kalte Luft. Diese fließt hangabwärts – als sogenannter katabatischer Wind – und senkt die Temperatur im Tal. Das verlangsamt das Schmelzen.

„Je heißer es wird, desto stärker kühlen Gletscher ihr Mikroklima“, erklärt Studienleiter Thomas Shaw vom Institute of Science and Technology Austria. Doch der Effekt ist endlich. Zwischen 2030 und 2040 erreicht diese Selbstkühlung ihren Höhepunkt. Danach reicht die Eismasse nicht mehr aus, um weiter Kälte zu speichern.

3,7 Millionen Datenpunkte – und eine klare Tendenz

Für die Analyse sammelte das Forschungsteam 3,7 Millionen stündliche Temperaturwerte von 350 Wetterstationen auf 62 Gletschern weltweit. Zeitraum: knapp 30 Jahre. Das Ergebnis: Die Luft über den Gletschern war im Schnitt 1,63 Grad kühler als die Umgebung. Doch dieser Puffer schwindet.

Wird es außen ein Grad wärmer, steigt die Temperatur über dem Eis derzeit nur um 0,83 Grad. Dieser sogenannte Entkopplungsfaktor dokumentiert die Kühlleistung der Gletscher. Doch er nimmt ab. Laut Modellrechnungen steigt er bis 2100 auf 0,92 oder sogar 0,96 – die Pufferwirkung sinkt gegen null.

Eine Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen errichtet. Thomas Shaw blickt zum Grand Combin hinauf.
Eine Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen errichtet. Thomas Shaw blickt zum Grand Combin hinauf. © Pascal Buri

Der Wendepunkt kommt schneller als gedacht

Die Forscher sprechen vom „Peak Cooling“. Noch gleichen Gletscher starke Temperaturschwankungen aus. Doch mit schwindender Masse verlieren sie die Grundlage dafür. Ab etwa 2040 beginnt die „Recoupling“-Phase: Die Temperaturen über dem Eis gleichen sich zunehmend der Umgebung an.

„Bis dahin werden sich die erheblich geschwächten Gletscher wieder an die sich stetig erwärmende Atmosphäre ‚ankoppeln‘“, so Shaw. Das bedeutet: kein eigener Kühlmechanismus mehr – und ein beschleunigtes Ende.

Gletscherschmelze bedroht Wasser und Sicherheit

Der Verlust der Selbstkühlung bleibt nicht ohne Folgen. Die Forscher nennen mehrere Risiken, die bereits heute spürbar werden:

  • Wasserversorgung gerät unter Druck: Gletscher sind natürliche Wasserspeicher. In den Alpen, im Himalaya und in den Anden hängt die Versorgung ganzer Regionen von ihnen ab. Kurzfristig fließt mehr Schmelzwasser, langfristig droht Wasserknappheit.
  • Mehr Naturkatastrophen: Wenn das Eis schwindet, entstehen Gletscherseen, die plötzlich ausbrechen können. Auch Hangrutsche und Erdrutsche werden wahrscheinlicher. Ohne die kühlenden Winde nehmen Hitzewellen selbst in Gebirgsregionen zu.

Natur und Wirtschaft geraten unter Druck

Mit dem Eis verschwindet ein ganzer Lebensraum. Kälteangepasste Tiere und Pflanzen verlieren ihren Standort. Temperatur, Feuchtigkeit und Nährstoffkreisläufe geraten aus dem Gleichgewicht.

Auch wirtschaftlich sind die Folgen spürbar. Skigebiete verlieren Schneesicherheit. Wasserkraftwerke bekommen weniger Nachschub. Dörfer und Straßen in Bergregionen müssen angepasst werden – oft mit großem Aufwand.

84 Prozent der Gletscher könnten verschwinden

Die Forscher simulierten zwei Szenarien. Im moderaten Fall verschwinden bis 2100 rund 68 Prozent der Gletscher weltweit. Im pessimistischen Szenario sogar 84 Prozent. Zurück bleiben nur Reste – mit kaum noch messbarer Kühlleistung. Der Entkopplungsfaktor sinkt von heute 0,83 auf nur noch 0,3 Grad Kühlwirkung. Der natürliche Schutz der Gletscher wäre verloren.

Technik kann die Gletscherschmelze nicht stoppen

Technische Eingriffe wie „Cloud Seeding“ oder das Abdecken von Gletschern mit reflektierenden Folien sollen das Schmelzen verlangsamen – doch ihr Effekt bleibt begrenzt. Beim „Cloud Seeding“ wird versucht, künstlich Regen oder Schnee aus Wolken zu erzeugen, um die Gletscher mit zusätzlichem Niederschlag zu versorgen. Die Methode ist jedoch unzuverlässig, teuer und wirkt nur unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen.

Auch das Auslegen von weißen Folien, die Sonnenlicht reflektieren und die Eisoberfläche schützen sollen, funktioniert nur auf kleinen Flächen – meist in touristischen Skigebieten. Für die großen Gletscherflächen der Welt ist diese Methode weder praktikabel noch nachhaltig. „Das wäre, als würde man ein Pflaster auf eine Schusswunde kleben“, sagt Co-Autorin Francesca Pellicciotti. Die einzige Lösung: Klimaschutz.

„Wir müssen den Eisverlust akzeptieren und alles daran setzen, die weitere Erwärmung zu begrenzen“, sagt Shaw. Denn eines steht für ihn fest:

Jedes Zehntelgrad zählt.

Kurz zusammengefasst:

  • Gletscher können sich derzeit noch selbst kühlen, doch dieser natürliche Schutzmechanismus bricht zwischen 2030 und 2040 zusammen – danach schmelzen sie immer schneller.
  • Mit der Gletscherschmelze geraten Wasserreserven, Ökosysteme und ganze Regionen ins Ungleichgewicht: Flüsse drohen auszutrocknen, alpine Lebensräume verschwinden, und Naturkatastrophen wie Gletscherseeausbrüche nehmen zu.
  • Technische Lösungen wie das Abdecken von Gletschern helfen kaum – entscheidend ist, die Erderwärmung zu bremsen.

Übrigens: Die Nordhalbkugel wird sichtbar dunkler – und speichert dadurch mehr Sonnenenergie als je zuvor. Das verändert Regenmuster weltweit und verschärft die Folgen des Klimawandels. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Thomas Shaw | ISTA

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