Die genaueste Waage der Welt liefert erste Antworten auf das Gewicht von „Geisterteilchen“

KIT-Wissenschaftler wollen das Geheimnis der Geisterteilchen knacken. Ihr Gewicht ist kaum vorstellbar.

Genaueste Waage der Welt misst das Gewicht von Neutrinos

70 Meter lang, 200 Tonnen schwer und 60 Millionen Euro teuer: Diese Waage soll eines der großen Rätsel in der Physik lösen. © KIT

Neutrinos gehören zu den häufigsten Teilchen im Universum – und doch weiß die Physik kaum etwas über ihr Gewicht. Ein Großprojekt am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) will das jetzt ändern. Im Mittelpunkt steht ein Messgerät von beeindruckender Größe: 70 Meter lang, 200 Tonnen schwer und 60 Millionen Euro teuer.

Seit 2018 läuft dort das sogenannte Karlsruhe-Tritium-Neutrino (KATRIN)-Experiment, das die bislang genaueste Waage der Welt betreibt. Ziel ist es, die Masse der schwer nachweisbaren Neutrinos zu bestimmen – ein Rätsel, das Forscher seit Jahrzehnten beschäftigt.

Schon 2016 wurde die riesige Waage von Bayern nach Karlsruhe gebracht – ein Transport, der über 8.000 Kilometer lang war. Die einzelnen Bauteile waren nämlich so groß, dass sie nicht über Straßen transportiert werden konnten. Stattdessen nutzten die Verantwortlichen Wasserwege, darunter das Schwarze Meer und den Rhein.

Kurz vor dem KIT-Campus zwängte sich das Gerät durch enge Karlsruher Straßen, teils nur Zentimeter entfernt von Hausfassaden. Die Anlage ist weltweit einmalig – und so präzise, dass selbst minimale Messabweichungen ausgeschlossen werden müssen. Wer will, kann sogar eine digitale Tour durch das KATRIN machen.

Forscher messen indirekt – mit Elektronen

„Eine der verblüffendsten Eigenschaften ist, dass das Neutrino einfach durch Materie durchfliegen kann“, sagt Susanne Mertens vom Max-Planck-Institut für Kernphysik gegenüber der Tagesschau. Daher werden sie auch „Geisterteilchen“ genannt. Pro Sekunde durchqueren so etwa 60 Milliarden dieser Teilchen einen einzigen Daumennagel, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Das liegt daran, dass Neutrinos kaum mit anderer Materie reagieren. Diese beeindruckende Eigenschaft macht es aber auch zu einem echten Mess-Albtraum. 

Am KIT setzen die Physiker daher auf eine indirekte Methode: Sie lassen Tritium zerfallen, ein schweres Wasserstoffisotop. Bei diesem Prozess entstehen Neutrinos und Elektronen. Die Wissenschaftler messen die Energie der Elektronen – daraus können sie Rückschlüsse auf das Gewicht der Neutrinos ziehen.

Ergebnis mit 33 Stellen nach dem Komma

Nach sieben Jahren Messarbeit liegen nun aktuelle Zwischenergebnisse vor. Mitte April hat das Team im Fachmagazin Science eine neue Obergrenze veröffentlicht:

  • 0,000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 002 Gramm – so viel soll ein Neutrino maximal wiegen.

Das entspricht etwa einem Fünfhunderttausendstel der Masse eines Elektrons. Doch selbst dieses Ergebnis könnte laut den Forschern zu hoch gegriffen sein – sie gehen davon aus, dass Neutrinos noch leichter sind. Obwohl das genaue Gewicht noch offen ist, liefert KATRIN bereits die präzisesten Messwerte weltweit. Ob die endgültige Masse bis Ende 2025, dem geplanten Abschluss der Messreihe, bestimmt werden kann, ist jedoch unsicher.

Supernovae als Neutrino-Fabriken

Neutrinos entstehen bei Prozessen in Sternen – etwa bei der Kernfusion oder dem Kollaps eines Sterns zu einer Supernova. Dabei schleudern die Teilchen wichtige Elemente wie Sauerstoff oder Kohlenstoff ins All. „Alle Elemente, auf denen auch das Leben auf der Erde basiert, werden in solchen Explosionen befördert“, sagt Kathrin Valerius vom KIT. Sie bezeichnet Neutrinos deshalb als „Geburtshelfer“ des Universums. Diese Teilchen begleiten also nicht nur den Kosmos seit Anbeginn – sie könnten auch erklären, warum sich das Universum ausdehnt, wie es das heute tut.

Eine Verbindung zu dunkler Materie?

Parallel zum laufenden Neutrino-Experiment arbeitet das Team bereits an der nächsten Herausforderung. Gesucht werden sogenannte sterile Neutrinos – hypothetische Teilchen, die ausschließlich der Schwerkraft folgen und mit sonst nichts wechselwirken. Viele Physiker vermuten, dass sie ein Teil der dunklen Materie sein könnten.

Dunkle Materie macht den Großteil der Masse im Universum aus – ist aber bis heute nicht sichtbar oder messbar. Wenn sich sterile Neutrinos nachweisen ließen, könnte das einen entscheidenden Durchbruch in der Kosmologie bedeuten.

Das Interesse der Industrie wächst

Was lange reine Grundlagenforschung war, rückt nun auch in den Fokus der Industrie. Besonders Start-ups aus dem Bereich Kernfusion interessieren sich für das Tritium-Labor des KIT. Denn dort haben Forscher viel Erfahrung mit dem radioaktiven Wasserstoffisotop gesammelt – ein potenzieller Brennstoff für künftige Fusionsreaktoren.

„Wir können uns vor Anfragen nicht retten“, sagt Magnus Schlösser, stellvertretender Laborleiter am KIT, gegenüber der Tagesschau. Vor allem Firmen aus der Energietechnologie wollen vom Know-how der Karlsruher Experten profitieren. Damit bringt das KATRIN-Projekt bringt die Wissenschaft dem Ziel näher, eines der letzten großen Rätsel der Physik zu lösen und auch die Zukunft für saubere Energie mitzugestalten.

Kurz zusammengefasst:

  • Neutrinos gehören zu den häufigsten Teilchen im Universum, doch ihr Gewicht ist extrem schwer messbar.
  • Am Karlsruher Institut für Technologie arbeitet das KATRIN-Projekt mit einer hochpräzisen Waage daran, die Masse dieser Teilchen zu bestimmen.
  • Erste Ergebnisse zeigen, dass Neutrinos extrem leicht sind – rund 500.000-mal leichter als ein Elektron.

Bild: © M. Zacher/KATRIN Coll, KIT

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