Gehirn wie eine Landkarte – Forscher entschlüsseln, warum unser Denkorgan Falten bildet
Die Oberfläche des Gehirns gleicht einer zerfurchten Landkarte. Eine neue Studie zeigt nun, wie Hirnfalten entstehen – und warum sie für Denken und Gesundheit entscheidend sind.

Die Forscher zeigen in Hirnschnitten von genetisch veränderten Mäusen, wie unterschiedliche Nervenzelltypen die Falten im Gehirn entstehen lassen. © MPI für biologische Intelligenz / Seung Hee Chun
Sprache, Erinnerungen, Kreativität – all das verdanken wir der besonderen Architektur unseres Gehirns. Wer einmal Bilder eines menschlichen Gehirns gesehen hat, kennt die zerklüftete Oberfläche, durchzogen von tiefen Furchen und gewölbten Hügeln. Doch was wie zufällige Windungen aussieht, ist ein hochpräzises Bauprinzip der Natur. Es vergrößert die Oberfläche des Gehirns und schafft Platz für Milliarden Nervenzellen. Ohne diese Strukturen wären unsere geistigen Fähigkeiten weit eingeschränkter.
Lange blieb offen, wie genau diese Falten entstehen. Eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz in München liefert nun Antworten – und sie zeigt, dass winzige Veränderungen in der Zahl und im Verhalten von Nervenzellen genügen, um ein glattes Gehirn in eine zerfurchte Landschaft zu verwandeln. Die Erkenntnisse sind nicht nur für die Grundlagenforschung spannend, sondern auch für das Verständnis von Krankheiten wie Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie.
Wie Hirnfalten entstehen – und warum es uns betrifft
Die Forschung liefert konkrete Hinweise, welche Zelltypen die typische Form der Hirnrinde bestimmen. Damit geht es nicht um abstrakte Laborergebnisse, sondern um Fragen, die jeden betreffen: Warum unterscheiden sich Gehirne von Mensch zu Mensch so stark? Und wieso sind manche Menschen anfälliger für Krankheiten wie Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie?
Mäusehirne liefern neue Einsichten
Die Antworten beginnen im Tiermodell: Mäuse besitzen normalerweise ein glattes Gehirn. Doch wenn bestimmte Gene ausgeschaltet werden, tauchen plötzlich Furchen und Erhebungen auf – so wie beim Menschen.
Bei einem doppelten Eingriff in die Gene Flrt1 und Flrt3 zeigten rund ein Drittel der Tiere erste Falten. Wurde zusätzlich das Gen Cep83 entfernt, traten bei mehr als 80 Prozent der Mäuse deutliche Windungen auf. Besonders eindrucksvoll war das Ausschalten von Fgf10: Über 90 Prozent der Tiere entwickelten Erhebungen, die das Gehirn vergrößerten.
Gleichzeitig nahm die Zahl der Zellen messbar zu – um neun Prozent bei Cep83, um ganze 33 Prozent bei Fgf10. Damit verändert sich nicht nur die Form, sondern auch das Volumen des Gehirns.
Welche Zellen Falten formen
Das Auffälligste: Nicht jeder Zelltyp erzeugt die gleiche Struktur. Mehr sogenannte intermediäre Vorläuferzellen führten eher zu Sulci, also Furchen. Wurden dagegen apikale Vorläuferzellen vermehrt, entstanden Gyri – also Erhebungen.
„Die wichtigsten Mechanismen für die Faltung der Hirnrinde sind: Klebeeigenschaften der Zellen, Zellanzahlen und das seitliche Auswandern der Nervenzellen. Diese Faktoren wirken zusammen und fördern die Bildung der Gehirnfalten“, erklärt Studienautorin Seung Hee Chun.
Hügel dichter besiedelt als Täler
Die Forscher maßen zudem deutliche Unterschiede in der Dichte der Zellen. In den Erhebungen lagen rund 50 Prozent mehr Nervenzellen als in glatten Kontrollregionen. In den Furchen blieb die Zellzahl zwar ähnlich, doch bestimmte Gruppen – sogenannte Ctip2+ Zellen – waren dort seltener. Die Täler sind also dünner besetzt, während die Hügel dichter gefüllt sind.
Die Veränderungen hielten stabil an, mindestens bis zum ersten Lebenstag der Mäuse. Zugleich blieb die innere Schichtung des Gehirns erhalten. Damit handelt es sich nicht um Defekte, sondern um klar nachvollziehbare Entwicklungsprozesse.
Computer bestätigt biologische Ergebnisse
Computermodelle bestätigten, was im Labor sichtbar war. Unterschiedliche Kombinationen aus Zellzahl und Klebeeigenschaften erzeugten genau die Faltenmuster, die im Experiment beobachtet wurden.
„Die Kombination von verstärkter Zellteilung und veränderter Nervenzell-Migration verstärkt die Faltenbildung im Mäusegehirn deutlich. Die Art der Falten hängt davon ab, welche Zellvorläufer-Zellen vermehrt entstehen“, fasst das Team zusammen.
Warum das Wissen für uns Menschen relevant ist
Die Ergebnisse sind nicht nur für Fachleute spannend, sondern berühren Fragen, die jeden betreffen: Wie hängen Form und Funktion des Gehirns zusammen? Warum gibt es individuelle Unterschiede? Und wie entstehen neurologische Erkrankungen?
- Medizinischer Nutzen: Viele Krankheiten gehen mit veränderten Faltenmustern einher. Neue Erkenntnisse könnten Diagnose und Therapie verbessern.
- Evolutionärer Blick: Falten vergrößern die Oberfläche und machten komplexes Denken überhaupt erst möglich. Sie sind ein Schlüssel zu dem, was den Menschen ausmacht.
- Individuelle Unterschiede: Kein Gehirn gleicht dem anderen. Wer ihre Ursachen kennt, kann besser begreifen, weshalb Menschen unterschiedlich lernen, denken oder krank werden.
„Selbst beim Menschen können die Faltungsmuster der Großhirnrinde von Person zu Person stark variieren. Wenn wir verstehen, woher diese Unterschiede kommen, können wir viel über die Gehirnentwicklung lernen – und wie die Form des Gehirns mit Funktion, Evolution, Verhalten und Gesundheit zusammenhängt“, sagt Rüdiger Klein, Direktor am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz.
Kurz zusammengefasst:
- Die Entstehung von Hirnfalten beruht auf dem Zusammenspiel von Zellvermehrung und Zellwanderung – daraus entstehen Sulci und Gyri.
- Die Struktur der Falten beeinflusst geistige Fähigkeiten und steht in Verbindung mit Krankheiten wie Autismus, Epilepsie oder Schizophrenie.
- Durch die Faltung konnte die Evolution mehr Nervenzellen auf engem Raum unterbringen, was das menschliche Gehirn besonders leistungsfähig machte.
Übrigens: Mit einer speziellen Lösung machten Forscher der Stanford University Mäuse-Schädel durchsichtig und sahen live, wie Nervenzellen sich vernetzen. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © MPI für biologische Intelligenz / Seung Hee Chun