Verantwortung zu früh übernommen: Die tiefen Spuren des Älteste-Tochter-Syndroms

Das „Älteste-Tochter-Syndrom“ thematisiert die Prägung durch frühe Verantwortung. Experten wie Julia Rohrer und Paris Capleton erforschen dessen Einflüsse.

Älteste-Tochter-Syndrom

Das Älteste-Tochter-Syndrom: Die Bürde der Erstgeborenen. © Midjourney

Das „Eldest Daughter Syndrome (EDS), also „Älteste-Tochter-Syndrom“, zieht sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit auf sich. In Videos und Diskussionen wird das Bild der überverantwortlichen, perfektionistischen ältesten Tochter gezeichnet. Aber wie viel Wahrheit steckt wirklich in diesem Syndrom? Psychologin Julia Rohrer und andere Experten wie Paris Capleton bieten Einblicke in die tatsächlichen Auswirkungen der Geburtenreihenfolge auf die Persönlichkeitsentwicklung.

Wissenschaft vs. soziale Medien: Was sagt die Forschung?

Laut Julia Rohrer gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die Geburtenreihenfolge die Persönlichkeit prägt. Ihre Studien und die anderer Forschungsgruppen widerlegen weitgehend die populäre Annahme, dass älteste Töchter aufgrund ihrer Position in der Familie bestimmte Charaktereigenschaften entwickeln. Dennoch hat das Konzept des „Eldest Daughter Syndrome“, wie es in sozialen Netzwerken diskutiert wird, vielen Frauen geholfen, ihre Erfahrungen einzuordnen, berichtet die Tagesschau.

Die Rolle der Eltern und die soziale Umgebung

Die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen, spielt eine wesentliche Rolle dabei, welche Verantwortung die älteste Tochter übernimmt. In Familien, in denen älteste Töchter früh Verantwortung übernehmen müssen, kann dies zu einer frühen Reife führen, aber auch zu einem Gefühl der Überforderung. Paris Capleton weist in einem Bericht von Business Insider darauf hin, dass solche Rollen insbesondere in Familien mit niedrigem Einkommen und in kulturellen Kontexten des Globalen Südens häufiger auf Töchter übertragen werden.

Verantwortungsübernahme ab jungem Alter

Das erste Anzeichen für das Älteste-Tochter-Syndrom ist die übermäßige Verantwortung, die man schon in jungen Jahren übernimmt. Paris Capleton erklärt, dass älteste Töchter oft hauswirtschaftliche und emotionale Pflichten tragen, wie das Betreuen jüngerer Geschwister oder das Übernehmen von Haushaltsaufgaben. Dies führt häufig zu einem Gefühl der Überlastung und kann das Gefühl hervorrufen, niemals den Anforderungen gerecht zu werden.

Große Unabhängigkeit und Probleme, Hilfe zu suchen

Menschen, die mit dem Älteste-Tochter-Syndrom aufwachsen, lernen früh, sich auf sich selbst zu verlassen und zögern, um Hilfe zu bitten. Diese Unabhängigkeit ist oft eine Folge der Notwendigkeit, früh Verantwortung zu übernehmen. Das kann zu Schwierigkeiten führen, Unterstützung anzunehmen, selbst wenn sie verfügbar ist, da man sich daran gewöhnt hat, alles alleine zu bewältigen.

Ernsthaftigkeit und Schwierigkeiten, Spaß zu haben

Als älteste Tochter muss man sich früh mit ernsten Themen auseinandersetzen. Die ständige Beschäftigung mit Erwachsenenproblemen lässt wenig Raum für Unbeschwertheit und Freude im Kindesalter. Diese Ernsthaftigkeit kann bis ins Erwachsenenalter fortbestehen und die Fähigkeit, Spaß zu haben, einschränken.

Das Bedürfnis, es allen recht zu machen

Älteste Töchter entwickeln häufig das Bedürfnis, andere zufriedenzustellen, was Capleton auf die frühe Rolle als Vermittlerin und Pflegerin innerhalb der Familie zurückführt. Diese Tendenz kann dazu führen, dass man seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinten anstellt. Langfristig kann dies zu Unzufriedenheit führen, da die eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt werden.

Rolle als Vermittlerin in Konflikten

Älteste Töchter spielen häufig die Rolle des Friedensstifters in Konfliktsituationen innerhalb der Familie. Dies kann laut Capleton emotional sehr belastend sein. Diese ständige Vermittler-Position kann das Gefühl verstärken, immer verfügbar sein und Probleme lösen zu müssen, was zusätzlichen Druck erzeugt.

Perfektionismus

Ein weiteres Zeichen des Älteste-Tochter-Syndroms ist ein tief verwurzelter Perfektionismus. Dieser entsteht oft durch die hohen Erwartungen, die in der Kindheit an sie gestellt werden, und führt dazu, dass älteste Töchter auch später hohe Anforderungen an sich selbst stellen. Der Perfektionismus kann zu Erschöpfung führen, wenn man ständig versucht, allein alles zu bewältigen.

Kontrollbedürfnis

Menschen, die unter dem Älteste-Tochter-Syndrom leiden, haben oft ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle. Dies rührt von der Notwendigkeit her, in der Kindheit Ordnung und Struktur zu schaffen. Eine Unterbrechung dieser Ordnung kann Angst und Stress auslösen, da das gewohnte Gleichgewicht gestört wird.

Liebe nur für Gegenleistung

Das achte Merkmal des Älteste-Tochter-Syndroms ist die Wahrnehmung von Liebe als Transaktion. Capleton erklärt, dass älteste Töchter oft das Gefühl haben, dass Beziehungen nicht bedingungslos sind, weil sie selbst viel leisten mussten, um Anerkennung zu erhalten. Dies kann zu Misstrauen führen, wenn ihnen Liebe und Fürsorge angeboten wird, da sie befürchten, dass auch diese Beziehungen nur auf Gegenleistungen beruhen.

Was du dir merken solltest:

  • Das „Älteste-Tochter-Syndrom“ beschreibt die Neigung der ältesten Töchter, aufgrund früh übernommener Verantwortung spezifische Verhaltensweisen zu entwickeln, ist jedoch wissenschaftlich nicht als Persönlichkeitsprägung durch Geburtenreihenfolge belegt.
  • Untersuchungen zeigen, dass Einflüsse wie familiäre Erwartungen und kulturelle Normen stark auf die Rolle der ältesten Tochter wirken und damit ihre Entwicklung und ihr Verhalten formen können.
  • Obwohl das Syndrom häufig in den sozialen Medien auftaucht, ist es wichtig, die realen Auswirkungen solcher Zuschreibungen kritisch zu reflektieren und auf fundierte Forschungsergebnisse zu stützen.

Bild: © Midjourney

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