Opfer, Helden – und kaum Täter? Wie sich Europa im Rückblick auf die NS-Zeit selbst entlastet
Laut einer länderübergreifenden Befragung sehen Europäer ihre Bevölkerung während der NS-Zeit meist als Opfer oder Helden, nicht als Täter.

Kollektive Erinnerung bezeichnet das gemeinsame Gedächtnis einer Gesellschaft an historische Ereignisse. Sie entsteht durch Erzählungen, Gedenktage, Schulunterricht oder Medien – und prägt, wie Gruppen ihre Vergangenheit deuten und bewerten. © Pexels
Kaum jemand spricht gerne darüber, was die eigenen Großeltern während der NS-Zeit gemacht haben. Wer weiß schon genau, ob sie geholfen oder weggesehen haben? Ob sie mutig waren – oder bequem? In vielen Familien ist das Thema ein blinder Fleck. Schweigen gehört oft genauso zur Erinnerung wie Stolz auf vermeintliche Helden. Eine neue Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz liefert dazu einen ungewohnten Blick auf acht europäische Länder.
Die Zahlen legen offen: In Belgien, Frankreich, Polen, Litauen, den Niederlanden, Österreich, Ungarn und der Ukraine sehen viele ihre eigene Bevölkerung bis heute vor allem als Opfer oder mutige Widerstandskämpfer.
Erinnerung verklärt statt aufzuklären
Dabei ging es in der Studie nicht um historische Fakten, sondern um persönliche Einschätzungen. 5.474 Menschen wurden gefragt, wie sie das Verhalten ihrer Landsleute während der Besatzung durch Nazi-Deutschland bewerten. Das Ergebnis: Mut und Leid spielen eine große Rolle, freiwillige Kollaboration kaum. Studienleiterin Dr. Fiona Kazarovytska erklärt:
Trotz historischer Unterschiede zeigt sich in allen Ländern ein bemerkenswert ähnliches Bild. Die Menschen tendieren dazu, ihre eigene Bevölkerung als ‚Opfer-Helden‘ wahrzunehmen.
Die Bevölkerung erscheine sich selbst als mutige Leidtragende, auch dort, wo es belegte Zusammenarbeit mit den Besatzern gab, etwa durch Behörden, die Adressen von jüdischen Familien weitergaben. Oder durch Gesetze, die antisemitische Diskriminierung förderten. Doch diese Seiten der Geschichte werden selten erwähnt. Die Rolle aktiver Mittäterschaft verschwindet hinter dem Bild der passiven Bevölkerung, die „keine andere Wahl“ hatte. Das belastende Kapitel wird ausgeblendet.
Schuld stört das Selbstbild
Die Studienautoren sehen darin einen psychologischen Mechanismus. Wer sich mit Schuld auseinandersetzen muss, gerät schnell in einen inneren Konflikt. „Schuld ist schwer mit einem positiven Selbstbild vereinbar“, sagt Kazarovytska. Also bleibt sie außen vor. Stattdessen erzählen sich viele eine Geschichte, in der das eigene Land standhaft, unschuldig oder zumindest gezwungen war.
Diese Erinnerung wirkt entlastend. Sie schützt das Bild, das sich Menschen von ihrem Land machen und damit auch von sich selbst. Die dunklen Seiten der Geschichte? Die werden oft verdrängt, selbst wenn sie gut dokumentiert sind.

Wie Scham zur Relativierung von Opfern führen kann
Interessant ist auch, wie unterschiedlich bestimmte Narrative emotional aufgeladen sind. Wer die Rolle des eigenen Landes als Opfer betont, fühlt sich selten schuldig. Wer aber anerkennt, dass es auch Täterrollen gab, spürt häufig kollektive Scham. Diese Scham bleibt jedoch nicht folgenlos – sie kann zu Abwehrreaktionen führen. Etwa, indem heutige Opfergruppen abgewertet oder die eigene Verantwortung relativiert wird.
Die Forscher stellten zudem fest, dass die Darstellung als „gezwungene Kollaborateure“ ähnlich entlastend wirken kann wie das klassische Opferbild. Auch diese Form der Erinnerung scheint also dazu zu dienen, sich selbst moralisch zu schonen.
Erinnerung ist politisch
Die Studie zeigt nicht nur, wie Erinnerung funktioniert, sie stellt auch die Frage, wer sie prägt. Viele Länder begannen erst in den 1970er- oder 1980er-Jahren damit, kritisch auf ihre Rolle im Nationalsozialismus zu blicken. In Teilen Osteuropas setzte diese Aufarbeitung noch später ein. Trotzdem gleichen sich die heutigen Erzählungen: Widerstand wird betont, Mitschuld verschwiegen. Mitautor Prof. Roland Imhoff sagt dazu:
Die Anerkennung einer dunklen Vergangenheit kann ein Triumph der Gegenwart sein.
Wer Schuld zulässt, muss sich nicht selbst verurteilen, sondern beweist Reife im Umgang mit Geschichte. Die Ergebnisse aus Mainz helfen, kollektive Erinnerung besser zu verstehen. Sie zeigen, wie sehr Menschen ihr Selbstbild schützen, auch auf Kosten der Wahrheit.
Und sie werfen die Frage auf, wie man mit einer Geschichte umgeht, die nicht nur Opfer und Helden kennt, sondern auch Täter.
Kurz zusammengefasst:
- Eine Studie der Universität Mainz mit 5.474 Teilnehmern aus acht europäischen Ländern zeigt: Die eigene Bevölkerung wird im Rückblick auf die NS-Zeit meist als Opfer oder Widerstandskämpfer gesehen, obwohl es dokumentierte Kollaboration mit dem NS-Regime gab.
- Die Erinnerung blendet Täterrollen häufig aus, weil sie das positive nationale Selbstbild stören – Schuldgefühle und kollektive Scham führen dabei zu psychologischer Abwehr.
- Diese Abwehrreaktionen können dazu führen, dass heutige Opfergruppen abgewertet oder historische Fakten relativiert werden, um moralische Entlastung zu schaffen.
Übrigens: Während viele europäische Gesellschaften ihre Vergangenheit beschönigen, sind heutige Jugendliche mit einer Flut brutaler Bilder aus Kriegen und Krisen konfrontiert. Gewaltaufnahmen in sozialen Medien lösen bei vielen psychische Symptome aus – obwohl sie die Ereignisse nur am Bildschirm erleben. Mehr dazu in unserem Artikel.
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