Arbeit frisst Leben – Immer mehr Menschen leiden unter Zeitarmut
Zeitarmut belastet Gesundheit und Alltag: In Deutschland und den USA fehlt Millionen Menschen die Zeit für Erholung, Familie und Teilhabe.

Wenn der Blick zur Uhr zur täglichen Mahnung wird, wie knapp Zeit wirklich ist. © Pexels
Immer mehr Menschen spüren, dass ihnen die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt – ein Gefühl chronischer Zeitarmut bestimmt ihren Alltag. In den USA verzichten 62 Prozent der Beschäftigten auf ihren Urlaub – aus Angst, im Job benachteiligt zu werden. Auch in Deutschland schlägt sich die Zeitknappheit zunehmend auf Gesundheit, Familienleben und soziale Teilhabe nieder. Das zeigen neue Daten des US-Unternehmens Wondr Health sowie eine Analyse des Journals für politische Bildung. Beide beschreiben das gleiche Phänomen – und fordern ein Umdenken.
Zeitarmut betrifft alle – und wird oft übersehen
Psychologen sprechen von „Zeitarmut“, wenn Menschen dauerhaft nicht genug Zeit für Erholung, Familie oder Selbstbestimmung haben. Dr. Tim Church von Wondr Health sagt laut Newsweek: „Niemand ist härter zu uns als wir selbst – und das führt zu Zeitarmut.“ In den USA lassen viele deshalb bis zu ein Drittel ihres Jahresurlaubs verfallen.
In Deutschland bleibt die gesellschaftliche Verteilung von Zeit dagegen weitgehend unbeachtet – obwohl sie sich massiv auf Lebensqualität und Gesundheit auswirkt. Dabei geht es nicht nur um subjektives Stressempfinden, sondern um ein strukturelles Problem.
Gender Time Gap macht Frauen besonders verwundbar
In beiden Ländern sind Frauen besonders betroffen. Sie übernehmen einen Großteil der unbezahlten Sorgearbeit – und das trotz gestiegener Erwerbsbeteiligung. Laut Bundesfamilienministerium leisten Frauen in Deutschland jede Woche rund neun Stunden mehr unbezahlte Care-Arbeit als Männer. Das sind 44 Prozent mehr.
In der Folge leiden sie häufiger unter Stress, was zu Burnout und Frühverrentung führen kann. 49 Prozent der vorzeitigen Renteneintritte wegen psychischer Erkrankungen betreffen Frauen – bei Männern sind es nur 36,5 Prozent. Auch die Soziologin Yasemin Besen-Cassino sieht laut Newsweek darin eine Fehlentwicklung: „Es ist wichtig, eine Kultur zu schaffen, in der Urlaub normal und erwünscht ist, damit sich Beschäftigte wirklich erholen können.“
Wenig Geld, wenig Zeit – Armut raubt Lebensjahre
Zeit lässt sich kaufen – mit Geld. Wer es sich leisten kann, bucht Haushaltshilfen, bestellt Essen oder delegiert Steuererklärungen. Wer wenig verdient, muss alles selbst erledigen. Das kostet Lebenszeit – und Lebensjahre.
Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts sterben Menschen aus ärmeren Schichten früher und verbringen mehr Jahre in schlechter Gesundheit. Das Journal für politische Bildung schreibt: „Gesunde Lebenszeit kostet Geld.“ In den USA beschreibt Ron Goetzel von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health die Lage ähnlich: „
Menschen versuchen, so viel Aktivität wie möglich in 24 Stunden zu packen – ohne zu fragen, ob das ihre Lebensqualität wirklich steigert.
Wohnort beeinflusst Zeitbudget und Teilhabe deutlich
Auch in Deutschland gibt es ein geografisches Zeitgefälle. Beschäftigte in Ostdeutschland arbeiten im Schnitt länger und haben weniger Urlaub. Der Grund: Geringere Tarifbindung. Nur 31 Prozent der Ostdeutschen profitieren von Branchentarifverträgen – im Westen sind es 44 Prozent.
Hinzu kommt der Unterschied zwischen Stadt und Land: Wer in ländlichen Regionen lebt, hat oft lange Wege zur Arbeit, Schule oder zum Arzt. Laut Agora Verkehrswende leben 27 Millionen Menschen in Gemeinden mit schlechtem Nahverkehr – mit Folgen für ihre Zeitbilanz. Wer kein Auto hat, verliert doppelt: an Mobilität und an Teilhabe.
Neue Arbeitskultur statt Dauerstress
Die Folgen von Zeitarmut sind bekannt: weniger Produktivität, mehr Krankheitstage, höhere Kündigungsraten. Experten sehen darin einen dringenden Handlungsbedarf – auch aus unternehmerischer Sicht. „Wenn Beschäftigte ausgelaugt sind, verlieren Unternehmen ihre besten Leute“, so Dr. Church.
Das Journal für politische Bildung fordert daher eine breite Debatte über „Zeitpolitik“. Dazu zählen:
- die Anhebung des gesetzlichen Mindesturlaubs (derzeit 20 Tage, Stand seit 1995)
- die Förderung von Teilzeitarbeit
- eine Anti-Stress-Verordnung gegen ständige Erreichbarkeit
- die Anerkennung von Pendelzeiten als Arbeitszeit
Erfolgreiche Modellversuche zur Vier-Tage-Woche in Großbritannien, Spanien oder den USA zeigen: Weniger Arbeitszeit kann zu mehr Zufriedenheit und Produktivität führen. In Großbritannien haben 56 von 61 Unternehmen nach einem Pilotprojekt dauerhaft auf die Vier-Tage-Woche umgestellt.
Wer keine Zeit hat, kann auch kein gesundes Leben führen – weder in den USA noch in Deutschland. Zeitarmut ist kein individuelles Problem, sondern eine Frage von Geschlecht, Einkommen, Region – und politischem Willen. Es ist Zeit, auch Zeit gerecht zu verteilen.
Kurz zusammengefasst:
- Zeitarmut trifft besonders Frauen, Geringverdiener und Ostdeutsche – durch ungleiche Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit, schlechtere Tarifbindung und längere Wege im Alltag.
- Gesundheit und Lebenserwartung leiden unter fehlender Zeit – arme Menschen sterben früher, weil ihnen oft die Zeit und Mittel für Erholung, Ernährung und medizinische Versorgung fehlen.
- Politik und Unternehmen können gegensteuern – durch mehr Urlaub, flexible Arbeitszeiten, bessere Infrastruktur und eine Kultur, die Erholung nicht bestraft, sondern ermöglicht.
Übrigens: Zeitarmut und ständige Erreichbarkeit gehören zu den häufigsten Ursachen für Burnout – oft beginnt es mit harmlosen Überstunden. Mehr dazu in unserem Artikel.
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