Dunkle Materie aus dem Fusionsreaktor? – Forscher stoßen auf möglichen Sensationseffekt
Fusionsreaktoren sollen sauberen Strom liefern – neue Berechnungen zeigen, dass sie dabei auch Teilchen mit Bezug zur Dunklen Materie erzeugen könnten.
Physiker zeigen, wie Fusionsreaktoren theoretisch Axionen erzeugen könnten – rätselhafte Teilchen, die als mögliche Erklärung für Dunkle Materie gelten. © Wikimedia
Fusionsreaktoren stehen seit Jahren für ein großes Versprechen: Energie ohne CO₂, ohne die Risiken klassischer Atomkraft. Milliarden fließen in Anlagen wie ITER, weil sie langfristig Strom liefern sollen, sauber und nahezu unbegrenzt. Doch eine neue theoretische Studie zeigt, dass diese Maschinen womöglich noch etwas anderes leisten könnten. Sie könnten helfen, eines der größten Rätsel der modernen Physik besser zu verstehen: die Natur der Dunklen Materie.
Der Ansatz ist überraschend bodenständig. Es geht nicht um ferne Galaxien oder exotische Teilchenbeschleuniger, sondern um Prozesse, die in künftigen Fusionskraftwerken ohnehin ablaufen. Eine neue Studie der University of Cincinnati unter Leitung des Physikers Jure Zupan kommt zu dem Schluss, dass die extremen Bedingungen in solchen Reaktoren Effekte haben könnten, die über die Energieerzeugung hinausreichen. Es geht um Axionen, Teilchen, die Physiker seit Jahren als Kandidaten für Dunkle Materie prüfen.
Warum Fusionsreaktoren plötzlich für die Teilchenphysik interessant werden
Bei der gängigen Deuterium-Tritium-Fusion wird sehr viel Energie frei. Rund 80 Prozent davon tragen Neutronen ab. Diese elektrisch neutralen Teilchen verlassen das Plasma fast ungebremst und treffen auf die Innenwände des Reaktors.
Dort beginnt ein komplexes Geschehen. Moderne Reaktoren sind mit sogenannten Brutblankets ausgekleidet. Sie enthalten Lithium, das Neutronen einfängt und dabei Tritium erzeugt – den Brennstoff für weitere Fusion. Gleichzeitig laufen bei diesen Treffern zahlreiche Kernreaktionen ab. Genau hier setzen die Forscher an.
Ihre Rechnungen zeigen: Wenn Neutronen auf die Wandmaterialien treffen, können instabile Atomkerne entstehen. Beim Übergang in einen stabilen Zustand geben sie Energie ab. Unter bestimmten Bedingungen könnte diese Energie nicht nur als Wärme oder Strahlung erscheinen, sondern auch in Form extrem schwach wechselwirkender Teilchen – etwa Axionen oder axionähnlicher Teilchen.
Warum die Idee schon bekannt war – und nun neu gerechnet wird
Die Grundidee ist nicht neu. Sie tauchte sogar in der Fernsehserie The Big Bang Theory auf. In mehreren Folgen versuchen die Figuren Sheldon Cooper und Leonard Hofstadter zu berechnen, ob Fusionsreaktoren Axionen erzeugen könnten. In der Serie scheitern sie an genau diesem Punkt. Die jetzt veröffentlichte Studie greift diese Fragestellung erneut auf – und zeigt erstmals rechnerisch, unter welchen Bedingungen der Ansatz funktionieren könnte.
Ein beteiligter Wissenschaftler sagt dazu: „Neutronen wechselwirken mit den Materialien der Reaktorwände. Die entstehenden Kernreaktionen können neue Teilchen erzeugen, die sonst kaum zugänglich sind.“
Axionen und Dunkle Materie: Warum diese Teilchen so wichtig sind
Dunkle Materie ist allgegenwärtig. Sie hält Galaxien zusammen, beeinflusst die Bewegung von Sternen und formt die großräumige Struktur des Universums. Direkt beobachten lässt sie sich nicht, weil sie weder Licht aussendet noch reflektiert. Ihr Einfluss zeigt sich nur über die Schwerkraft.
Axionen gelten als besonders interessante Kandidaten, weil sie mehrere offene Fragen der Physik zugleich adressieren könnten. Sie wären extrem leicht, elektrisch neutral und wechselwirkten nur sehr schwach mit normaler Materie. Genau das macht sie so schwer nachweisbar.
Bisher suchten Forscher Axionen vor allem an drei Orten:
- in der Sonne, wo sie bei Kernreaktionen entstehen könnten,
- in Supernovae, die extreme Bedingungen bieten,
- in spezialisierten Laboren mit Magnetfeldern oder Teilchenstrahlen.
Die neue Studie erweitert diesen Suchraum nun um einen vierten Ort: künftige Fusionsreaktoren.
Nicht die Fusion selbst ist entscheidend – sondern das Drumherum
Die gesuchten Teilchen entstehen nach diesem Modell nicht im heißen Fusionsplasma. Frühere Ideen hatten genau dort angesetzt, blieben aber erfolglos. Stattdessen spielen Nebenprozesse die Hauptrolle.
Wenn Neutronen abgebremst oder von Atomkernen eingefangen werden, kann sogenannte Bremsstrahlung auftreten. Außerdem können Atomkerne in angeregte Zustände versetzt werden und beim Übergang Energie freisetzen. In diesen Momenten könnten Axionen entstehen.
Die Forscher vergleichen die Situation mit Kernspaltungsreaktoren. Dort entstehen ebenfalls Neutronen, aber in deutlich geringerer Zahl und mit geringerer Energie. Fusionsreaktoren liefern hier zwei Vorteile zugleich:
- einen bis zu hundertfach höheren Neutronenfluss,
- deutlich energiereichere Neutronen, meist um 14 Megaelektronenvolt.
Beides erhöht die Chance, seltene Prozesse messbar zu machen.

Wie ein Nachweis praktisch aussehen könnte
Geplant ist ein zusätzlicher Messdetektor in der Nähe des Reaktors, etwa zehn Meter entfernt. Als Orientierung dient eine bestehende Anlage in Kanada, die mit schwerem Wasser arbeitet. Trifft ein Axion oder ein ähnliches Teilchen auf einen Deuteriumkern, kann dieser aufbrechen. Dabei entstehen Teilchen, die sich mit empfindlichen Sensoren erfassen lassen.
Die Berechnungen legen nahe, dass ein Detektor bereits nach etwa einem Jahr Dauerbetrieb genug Daten sammeln könnte, um neue Hinweise auf solche Teilchen zu liefern – oder bestimmte Annahmen klar auszuschließen.
Was diese Ergebnisse realistisch bedeuten – und was nicht
Die Forscher betonen ausdrücklich, dass es sich um eine theoretische Machbarkeitsstudie handelt. Niemand hat bisher Axionen in einem Fusionsreaktor gemessen. Viele Faktoren bleiben unsicher, etwa:
- die genaue Materialzusammensetzung der Reaktorwände,
- die Geometrie künftiger Anlagen,
- die Größe und Empfindlichkeit möglicher Detektoren.
Dennoch sehen die Autoren großes Potenzial. Künftige Demonstrationsreaktoren könnten gezielt so gestaltet werden, dass neben der Energiegewinnung auch Grundlagenforschung möglich wird.
Fusionsreaktoren könnten zu Laboren werden, in denen sich neue Physik testen lässt, ohne den Betrieb zu beeinträchtigen.
Jure Zupan
Kurz zusammengefasst:
- Fusionsreaktoren könnten mehr als Strom liefern: Theoretische Berechnungen legen nahe, dass in ihnen auch Teilchen entstehen könnten, die mit Dunkler Materie zusammenhängen.
- Der Schlüssel liegt in den Neutronen: Sie tragen den Großteil der Energie, treffen auf Reaktorwände und könnten dabei Axionen erzeugen – lange diskutierte Kandidaten für Dunkle Materie.
- Die Suche bekommt einen neuen Ort: Neben Sonne und Laboren rücken künftig auch Fusionsreaktoren in den Blick, bisher allerdings nur rechnerisch.
Übrigens: Während Forscher im Labor nach Hinweisen auf Dunkle Materie suchen, meldet die Astronomie ein auffälliges Gammastrahlen-Leuchten aus dem Zentrum der Milchstraße, das erstmals zu dieser unsichtbaren Materie passen könnte – mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Christophe Roux / IRFM via Wikimedia unter CC BY-SA 4.0
