Das Gute-Taten-Dilemma: Warum viele Menschen ihre Hilfsbereitschaft verbergen

Viele Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie über ihre guten Taten sprechen. In Fachkreisen nennt sich dieses Phänomen das Gute-Taten-Dilemma.

Viele Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie über ihre guten Taten sprechen. Forschende nennen dieses Phänomen das Gute-Taten-Dilemma.

Viele teilen ihre Hilfsbereitschaft nur ungern, weil sie fürchten, als unehrlich oder selbstbezogen zu wirken. © Freepik

Hilfsbereitschaft zählt zu den Eigenschaften, die Menschen am meisten schätzen. Trotzdem sprechen viele ungern darüber, wenn sie etwas Gutes getan haben. Eine Spende, eine kleine Hilfe im Alltag oder ein Einsatz für andere bleibt oft unerwähnt. Nicht, weil es unwichtig wäre, sondern aus Angst, als Angeber zu gelten. Eine aktuelle Studie der Cornell University beschreibt dieses Phänomen als Gute-Taten-Dilemma.

Die Wissenschaftler wollten verstehen, warum das Teilen von Hilfsbereitschaft so unangenehm wirkt – obwohl Menschen eigentlich stolz darauf sein könnten. In fünf Experimenten mit insgesamt 2840 Teilnehmern zeigte sich ein eindeutiges Muster: Viele gingen davon aus, sich schlecht zu fühlen, wenn sie von ihren guten Taten erzählen und noch unwohler, wenn sie es im Internet tun.

Wenn gutes Handeln verunsichert

Wer anderen hilft, erlebt meist ein gutes Gefühl – den sogenannten „warmen Schimmer“ des Altruismus, das gute Gefühl, das entsteht, wenn man anderen hilft – ein inneres Aufleuchten durch selbstloses Handeln. Doch sobald es darum geht, darüber zu sprechen, kommt Unsicherheit auf. Die Teilnehmer gaben an, Scham, Verlegenheit oder Angst vor Missverständnissen zu empfinden, sobald sie ihre Hilfsbereitschaft öffentlich machen.

Anders ist das bei Erfolgen wie einer Beförderung oder einer bestandenen Prüfung. Hier erwarten Menschen Stolz und Anerkennung. Beide Situationen fordern zwar das Gebot der Bescheidenheit heraus, doch bei guten Taten entsteht ein zusätzlicher Druck: der moralische Vergleich. Wer erzählt, geholfen zu haben, erinnert andere vielleicht daran, dass sie es nicht getan haben.

Reputationsangst als zentrales Motiv

Die Angst, falsch verstanden zu werden, steht im Zentrum des Gute-Taten-Dilemmas. Besonders in sozialen Medien wächst die Sorge, dass andere eine gute Tat als Selbstdarstellung oder Berechnung wahrnehmen könnten. Studienleiter Jerry Richardson erklärt: „Viele Menschen sind sich bewusst, dass andere ihnen Eigeninteresse unterstellen könnten, wenn sie über ihre guten Taten sprechen. Dieses Bewusstsein reicht oft, um sie davon abzuhalten, darüber zu sprechen.“

So verliert die Handlung ihren positiven Effekt. Aus Freude wird Beklemmung – ein paradoxes Ergebnis des Wunsches, moralisch korrekt zu wirken. Online verstärkt sich dieser Effekt, weil Reaktionen dort unvorhersehbar bleiben.

Das Gute-Taten-Dilemma verzerrt Gefühle

In der Studie gingen die Teilnehmer davon aus, dass andere beim Erzählen guter Taten weniger Unbehagen empfinden würden als sie selbst. Diese Fehleinschätzung nennt Richardson eine „Empathielücke“. „Wir haben keinen Zugang zu den inneren Zuständen anderer Menschen“, sagt er. „Unsere Vorstellungen davon bleiben flach im Vergleich zu unseren eigenen Gefühlen.“

Menschen überschätzen also ihre negativen Emotionen. Sie erwarten mehr Scham und weniger Verständnis, als tatsächlich auftreten würde. So bleibt die gute Tat im Stillen – aus übertriebener Sorge vor einem negativen Eindruck.

Zwischen Authentizität und der Angst vor falschem Eindruck

Das Gute-Taten-Dilemma zeigt, wie stark gesellschaftliche Normen bestimmen, wie offen Menschen über moralisches Handeln sprechen. Viele wollen hilfsbereit wirken, ohne sich in den Vordergrund zu stellen. Doch gerade in sozialen Medien ist dieser Balanceakt schwierig.

In der Studie gaben Teilnehmer an, dass sie sich unwohl fühlen, wenn sie Freunden oder Kollegen von ihren guten Taten erzählen. Noch unangenehmer empfanden sie die Vorstellung, dies auf Plattformen wie Instagram, Facebook oder TikTok zu tun. Die Angst, als scheinheilig zu gelten, überlagert oft das gute Gefühl, etwas Positives getan zu haben.

Hilfsbereitschaft sichtbar machen und Vertrauen stärken

Den Experten zufolge kann Schweigen auch gesellschaftliche Folgen haben. Wenn Hilfsbereitschaft unsichtbar bleibt, sehen andere seltener, wie verbreitet Engagement tatsächlich ist. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst aktiv werden.

Ein bewusster Umgang mit dem Erzählen guter Taten kann helfen, dieses Muster zu durchbrechen. Wichtig ist, authentisch zu bleiben und keine Selbstdarstellung anzustreben. Einige praktische Ansätze dafür sind:

  • Im persönlichen Gespräch teilen: Offline entsteht weniger Druck als im Netz.
  • Kontext geben: Wer erklärt, warum er geholfen hat, wirkt glaubwürdig.
  • Anonymität nutzen: Spenden oder Hilfsaktionen ohne Namensnennung zeigen Engagement, ohne Missverständnisse zu riskieren.

Moralisches Handeln verlangt echte Glaubwürdigkeit

In der Psychologie gilt moralisches Verhalten als wichtiger Teil sozialer Bindung. Menschen möchten als gut gelten, fürchten aber gleichzeitig, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn sie darüber sprechen. Diese Spannung prägt das Gute-Taten-Dilemma. Richardson fasst es mit einem Zitat von Oscar Wilde zusammen:

Das schönste Gefühl der Welt ist, eine gute Tat anonym zu tun und jemand erfährt davon.

Hilfsbereitschaft entfaltet ihre Wirkung also oft dann, wenn sie zufällig sichtbar wird – nicht, wenn sie angekündigt wird.

Kurz zusammengefasst:

  • Das Gute-Taten-Dilemma beschreibt, warum viele Menschen zögern, über ihre Hilfsbereitschaft zu sprechen – aus Angst, als prahlerisch oder unehrlich zu wirken.
  • In fünf Studien mit 2840 Teilnehmer zeigte sich, dass Menschen ihre negativen Gefühle beim Mitteilen guter Taten überschätzen und glauben, andere würden sich dabei wohler fühlen.
  • Wer das Gute-Taten-Dilemma überwindet und authentisch über sein Engagement spricht – etwa im persönlichen Gespräch statt online –, kann Mitgefühl sichtbar machen und andere zum Helfen inspirieren.

Übrigens: Freundschaft wirkt im Alter wie ein Stimmungsaufheller – besonders, wenn sie im Alltag praktisch gelebt wird. Warum Männer und Frauen dabei unterschiedlich auf Hilfsbereitschaft reagieren, steht in unserem Artikel.

Bild: © Freepik

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