Wenn Entzündungen das Gehirn durchlässig machen – Forscher entdecken, wie die Blut-Hirn-Schranke versagt
Neue Chip-Modelle zeigen, wie Entzündungen die Blut-Hirn-Schranke schwächen – und wie spezielle Zellen sie wieder stabilisieren können.

Am University of Rochester Medical Center bestückt Kaihua Chen einen Gehirn-Chip mit menschlichen Zellen – das System hilft, Hirnschäden nach Entzündungen besser zu verstehen. © University of Rochester photo / J. Adam Fenster
Nach schweren Infekten oder Operationen klagen viele Menschen über Konzentrationsprobleme, Müdigkeit oder Gedächtnislücken – doch lange blieb unklar, warum. Nun zeigen neue Experimente auf einem Mikrochip, was dabei im Körper geschieht: Entzündungen können die schützende Blut-Hirn-Schranke schwächen, sodass Stoffe ins Gehirn eindringen, die dort nichts verloren haben. Die Wissenschaft macht damit einen weiteren Schritt, um zu verstehen, warum manche Patienten nach Krankheiten geistig abbauen – während andere erstaunlich gut geschützt sind.
Forscher simulieren die Blut-Hirn-Schranke im Labor
Die Blut-Hirn-Schranke schützt das empfindliche Gehirn vor Giften, Krankheitserregern und Schadstoffen. Sie ist zugleich hochkomplex – bestehend aus hauchdünnen Gefäßwänden, Stützzellen und einer feinen Basalmembran. Forscher der University of Rochester haben nun ein Modell entwickelt, das diese Barriere erstmals detailgetreu auf einem Mikrochip abbildet.
Dafür kombinierten sie menschliche Zellkulturen mit winzigen Kanälen, durch die Flüssigkeit strömt. So entsteht eine künstliche Mikroumgebung, in der sich nachvollziehen lässt, was im Gehirn passiert, wenn eine Entzündung den Körper erschüttert – etwa bei Sepsis, nach großen Operationen oder während einer Chemotherapie.
Wie Entzündungen die Blut-Hirn-Schranke angreifen
In der Fachzeitschrift Advanced Science beschreibt das Team um James McGrath, was im Labor geschieht, wenn Immunbotenstoffe das System überfluten. Schon moderate Konzentrationen entzündlicher Moleküle wie TNF-α oder IL-1β bringen die Barriere unter Druck. Steigt der Spiegel zu stark, reißt die Struktur auf – Proteine aus dem Blut dringen ins Gehirn ein und schädigen dort Stützzellen, die sogenannten Astrozyten.
„Zwei verschiedene Stresssignale – Blutproteine, die in das Gehirn gelangen, zusammen mit entzündlichen Zytokinen – können gemeinsam schädliche Veränderungen in Astrozyten auslösen“, erklärt Erstautorin Kaihua Chen. Besonders gefährlich werde es, wenn zusätzlich Fibrinogen austrete, ein Eiweiß, das normalerweise bei der Blutgerinnung hilft.
Strömung schützt die Barriere erstaunlich effektiv
Überraschend ist eine zweite Beobachtung: Eine natürliche Durchströmung, also die Scherkräfte des Blutes, stabilisiert die Barriere. Sie verhindert, dass die Zellwände aufbrechen. Ohne diese Bewegung ist die Schutzschicht deutlich anfälliger. Die Forscher konnten nachweisen, dass dieser physikalische Faktor entscheidend dafür ist, ob die Blut-Hirn-Schranke bei Entzündungen dicht bleibt oder kollabiert.
McGrath sieht darin einen möglichen Ansatzpunkt für die Medizin: „Wir hoffen, dass sich mit solchen Modellen neue Medikamente identifizieren lassen, die die Blut-Hirn-Schranke stabil halten.“ In Zukunft sollen die Chips auch Immunzellen des Gehirns enthalten, um die Reaktionen noch genauer zu erfassen.
Nach Entzündungen helfen Perizyten, die Blut-Hirn-Schranke zu schützen
Eine zweite Studie, veröffentlicht in Materials Today Bio, zeigt, wie die Barriere repariert werden kann, wenn sie bereits geschädigt ist. Dafür erzeugte das gleiche Forschungsteam gezielt winzige Löcher in der Basalmembran – eine Art künstlicher Schaden. Ohne Unterstützung blieben diese Defekte bestehen, die Barriere wurde „undicht“.
Als die Forscher jedoch Perizyten hinzufügten, also Stützzellen der Kapillaren, begannen diese, die Lücken zu schließen. Sie bildeten ein Netzwerk aus faserigen Proteinen wie Laminin, das die Gefäßwand wieder stabilisierte. „Wenn wir Perizyten hinzufügen, entsteht eine stabile Matrix, die die Löcher auffüllt, sodass die Zellen wieder eine funktionsfähige Barriere bilden können“, erläutert McGrath.
Perizyten verhindern das Eindringen von Schadstoffen
Die Forscher beobachteten zudem, dass Perizyten das Durchwandern von Endothelzellen durch größere Poren stoppten – ein weiterer Mechanismus, der die Schutzfunktion bewahrt. Ohne diese Perizyten verloren die künstlichen Gefäße ihre Struktur, und Substanzen wie Farbstoffmoleküle gelangten ungehindert hindurch.
Interessanterweise funktionierte dieser Reparaturmechanismus nur bis zu einer bestimmten Schadensgröße. Bei größeren Defekten, so die Daten, konnten Perizyten die Barriere nicht mehr vollständig stabilisieren. Die Forscher vermuten, dass hier zusätzliche Zelltypen wie Astrozyten beteiligt sein müssten, um eine vollständige Wiederherstellung zu ermöglichen.
Manche Gehirne verkraften Entzündungen besser
Warum manche Gehirne nach einer Entzündung widerstandsfähig bleiben, während andere empfindlich reagieren, könnte genau daran liegen. Mit zunehmendem Alter oder bei genetischen Risikofaktoren wie dem Alzheimer-assoziierten APOE4-Gen verlieren Perizyten offenbar ihre Reparaturkraft.
Dann bleibt die Blut-Hirn-Schranke anfälliger – und schädliche Eiweiße können länger im Gehirn verweilen. Das würde erklären, warum ältere oder vorerkrankte Menschen nach Infektionen oder Operationen häufiger kognitive Einbußen zeigen als Jüngere mit intakter Barriere.
Forscher sehen in der neuen Chip-Technologie eine Chance, Risiken für Hirnschäden künftig gezielter einzuschätzen. McGrath hält sogar personalisierte Tests für denkbar: „Wenn ein Patient vor einer Chemotherapie oder einer Operation steht, könnten wir mit einem Modell seines eigenen Hirngewebes prüfen, wie stark seine Blut-Hirn-Schranke gefährdet ist.“ So ließen sich Wirkstoffe und Dosierungen individuell anpassen – bevor Entzündungen bleibende Schäden anrichten.
Kurz zusammengefasst:
- Entzündungen wie bei Sepsis oder nach Operationen können die Blut-Hirn-Schranke schwächen, sodass schädliche Stoffe ins Gehirn eindringen und Nervenzellen beeinträchtigen.
- Der natürliche Blutfluss stabilisiert diese Barriere, während bestimmte Stresssignale und Blutproteine sie durchlässig machen.
- Perizyten – spezielle Stützzellen – können beschädigte Bereiche der Blut-Hirn-Schranke reparieren und so helfen, das Gehirn vor Entzündungsfolgen zu schützen.
Übrigens: Sport schützt nicht automatisch vor Krankheiten – im Gegenteil, zu viel Training kann dem Darm zusetzen. Was stille Entzündungen auslösen können und wie man sich schützt, mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © University of Rochester photo / J. Adam Fenster