Die aufrechte Haltung war keine Absicht der Natur – sondern eine späte Laune der Evolution

Die typische aufrechte Haltung heutiger Säugetiere entstand erst relativ spät und war nicht das Ziel, sondern ein Zufall der Evolution.

Der Weg vom Reptiliengang früher Synapsiden zur aufrechten Körperhaltung heutiger Säugetiere war lang – und nicht immer direkt. © BVBurton

Der Weg vom Reptiliengang früher Synapsiden zur aufrechten Körperhaltung heutiger Säugetiere war lang – und nicht immer direkt. © BVBurton

Vergleicht man die Körperhaltung einer Katze mit der einer Eidechse, fällt eines sofort auf: Während die Beine einer Katze quasi unten am Körper angebracht sind, befinden die sich bei der Echse an den Seiten – so wie damals bei den frühen Säugetiervorfahren, den Synapsiden. Lange galt die Entwicklung vom Reptiliengang zur aufrechten Haltung als ein geradliniger Prozess. Doch eine neue Studie der Harvard University zeigt: Der Weg dahin war deutlich komplexer und dynamischer.

Die Studie erschien in der Fachzeitschrift PLOS Biology und basiert auf der Analyse von Oberarmknochen aus über 200 Arten. Dazu gehören mehr als 60 Fossilien ausgestorbener Synapsiden (solcher, die nicht zu den heutigen Säugetieren gehören) sowie über 140 lebende Tiere, darunter:

  • Salamander
  • Reptilien
  • Kloakentiere (z. B. Schnabeltiere und Ameisenigel) 
  • Beutel- und Plazentatiere

Von den untersuchten Tieren besitzen nur die Beutel- und Plazentatiere eine aufrechte Körperhaltung.

Die ersten Vorfahren der Säugetiere ähnelten eher Reptilien als ihren eigentlichen Nachkommen. © Magdalen Mercado

Aufrechte Haltung entstand später als vermutet

Geleitet wurde die Untersuchung von Dr. Robert Brocklehurst und Professorin Stephanie Pierce von der Harvard University. Mithilfe eines eigens entwickelten, sogenannten „slice-based“ Landmarking-Tools analysierten sie die Form, Verdrehung, Hebelwirkung und Biegefestigkeit der Knochen. Daraus konnten sie Haltung und Bewegungsweise ableiten.

Mit dieser umfassenden Datengrundlage war es dem Forschungsteam erstmals möglich, die Entwicklung der Gliedmaßenhaltung über den gesamten Stammbaum der Synapsiden hinweg präzise zu verfolgen. „Wir wollten nicht nur die Form der Knochen betrachten, sondern wirklich verstehen, wie sie funktioniert haben“, so Brocklehurst.

Die Daten zeigen: Die für Säugetiere typische aufrechte Haltung, bei der die Gliedmaßen senkrecht unter dem Körper stehen, entwickelte sich erst relativ spät in der Geschichte der Säugetiere.

Unsere Ergebnisse belegen, dass die markante Haltung und Funktion der Vordergliedmaßen moderner Säugetiere erst überraschend spät im Verlauf der Synapsiden-Evolution entstand.

Stephanie Pierce

Fossilien zeigen mehr Vielfalt als erwartet

Das Team kartierte die untersuchten Knochen in einer sogenannten „adaptiven Landschaft“. Diese bildhafte Darstellung zeigt, welche biomechanischen Eigenschaften für bestimmte Bewegungsweisen besonders geeignet sind. Dabei zeigte sich: Es gab keine einfache Abfolge vom Reptiliengang zur Säugetierhaltung.

Die neue Analyse spricht von einer Reihe sukzessiver Anpassungswellen, in denen große Vorfahrengruppen jeweils eigene Lösungen für Fortbewegung und Haltung entwickelten.

Ophiacodon (oben), ein früher Vorläufer der Säugetiere, und ein modernes Säugetier: ein Hund (unten). © Kenneth Angielczyk

Äußerlich mögen die Gliedmaßen früherer Synapsiden starke Ähnlichkeiten zu heutigen Echsen oder Krokodilen haben, doch der Schein trügt. „Unsere Studie zeigt, dass die meisten Synapsiden-Gliedmaßen anders funktionierten als die heutiger Reptilien“, erklärt Dr. Kenneth Angielczyk vom Field Museum in Chicago.

Sie waren keine Reptilienkopien, sondern eigene Tierformen – anders als alles, was heute lebt.

Dr. Kenneth Angielczyk

Kein direkter „Aufstieg“ zur aufrechten Haltung

Gängige Darstellungen zur Evolution können den Eindruck vermitteln, dass diese ein Ziel hat. Demnach wären alle Tiere dazwischen nur Etappen hin zu diesem Ziel. Die Studienautoren wehren sich gegen diese Vorstellung: „Diese Fossilien waren keine Stufen auf einer Leiter, sondern Tiere, die sich an verschiedenste ökologische Nischen und Lebensweisen anpassten.“

Die Vielfalt innerhalb jeder großen Vorfahrengruppe war größer als bislang angenommen. Auch innerhalb der Therapsiden und Cynodonten – beides Zwischenformen auf dem Weg zu modernen Säugetieren – gab es unterschiedliche Kombinationen aus Haltung und Bewegung.

Die Forschung schließt an eine lange Tradition an. Bereits Alfred Sherwood Romer und Farish Jenkins, ehemalige Kuratoren am Museum of Comparative Zoology der Harvard University, beschäftigten sich mit ähnlichen Fragen. Heute ist Professorin Pierce selbst Kuratorin an dieser Einrichtung – und nutzt moderne Technik, um die damaligen Hypothesen ihrer Vorgänger neu zu bewerten.

Kurz zusammengefasst:

  • Die aufrechte Haltung der Säugetiere entwickelte sich nicht schrittweise, sondern über viele Umwege und erst relativ spät.
  • Frühere Synapsiden hatten eine große Vielfalt an Fortbewegungsarten, die sich deutlich von heutigen Reptilien unterschieden.
  • Neue biomechanische Analysen zeigen, dass der Übergang zum aufrechten Gang komplexer war als bisher angenommen.

Übrigens: Im Gegensatz zu vielen anderen Säugetieren fehlen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten der Schwanz – obwohl dessen Überreste noch da sind. Mehr dazu gibt es in diesem Artikel.

Bild: © BVBurton via Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

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