Leiden ohne Ursache: Was im Gehirn bei chronischen Schmerzen schiefläuft

Bei chronischem Schmerz fehlt im Gehirn ein beruhigender Reiz – der A-Typ-Kaliumstrom bleibt aus und die Nervenzellen feuern ungebremst weiter.

Wie das Gehirn bei chronischem Schmerz die Kontrolle verliert

Der A-Typ-Kaliumstrom beruhigt normalerweise überaktive Nervenzellen. Fehlt dieser Mechanismus, können Schmerzen dauerhaft bestehen bleiben. © Pexels

Wer schon einmal wochenlang Rückenschmerzen hatte oder nach einer OP nicht aus dem Schmerz herauskam, kennt das Gefühl: Die eigentliche Verletzung ist längst verheilt – aber der Schmerz bleibt. Was ist da los im Körper? Und warum wird ein harmloser Schmerz bei manchen Menschen zum ständigen Begleiter? Eine neue Studie liefert Hinweise auf einen bislang kaum beachteten Mechanismus im Gehirn: Im Zentrum steht der A-Typ-Kaliumstrom, der offenbar eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung von Schmerz spielt – und bei chronischem Leiden versagt.

A-Typ-Kaliumstrom bremst überaktive Nervenzellen

Der entscheidende Punkt in der Studie ist ein elektrischer Strom, der Nervenzellen im Hirnstamm gezielt beruhigt. Er fließt über sogenannte A-Typ-Kaliumkanäle und wirkt wie ein natürliches Regulierungssystem. Dieser A-Typ-Kaliumstrom spielt eine zentrale Rolle bei der Schmerzverarbeitung. Er wirkt wie ein eingebauter Regler: Wird er aktiviert, dämpft er die Erregbarkeit der Nervenzellen – der Schmerz bleibt spürbar, aber kontrollierbar.

Bei akutem Schmerz steigt dieser Strom deutlich an. Er verhindert, dass die Schmerzsignale zu stark werden. „Die Nervenzellen können sich selbst regulieren“, erklärt Studienleiter Prof. Alexander M. Binshtok von der Hebräischen Universität von Jerusalem. Der Schmerz klingt wieder ab, sobald die Ursache – etwa eine Entzündung – verschwindet.

Fehlt der A-Typ-Kaliumstrom, bleibt Schmerz dauerhaft aktiv

Anders sieht es bei chronischem Schmerz aus. Hier versagt die Bremse. Die Forscher konnten zeigen: Der A-Typ-Kaliumstrom wird in diesem Fall nicht aktiviert. Die Nervenzellen feuern ungebremst weiter, obwohl es keine akute Ursache mehr gibt. Diese Daueraktivität sorgt dafür, dass Betroffene Tag für Tag Schmerzen spüren – ohne körperliche Erklärung.

Der Körper scheint das natürliche Gleichgewicht zu verlieren. Statt sich zu beruhigen, bleibt das Nervensystem in Alarmbereitschaft. Die Schmerzleitung wird zum Selbstläufer. Für viele Menschen bedeutet das: Medikamente wirken nur begrenzt, und die Ursache bleibt unklar.

Tiefer Hirnstamm gibt Aufschluss über die Schmerzursache

Untersucht wurde eine kleine Region im Hirnstamm – das sogenannte medulläre dorsale Horn. Dort laufen Schmerzsignale aus dem gesamten Körper zusammen. Die Forscher nutzten elektrophysiologische Messungen und Computermodelle, um die Aktivität einzelner Nervenzellen präzise zu analysieren.

„Wenn wir einen Weg finden, dieses Bremssystem wiederherzustellen oder zu imitieren, könnten wir verhindern, dass Schmerz chronisch wird.“, erklärt Binshtok. Für Betroffene sind das gute Nachrichten. Denn das Ziel der Forscher ist nicht nur ein besseres Verständnis – sondern konkrete neue Therapieansätze. Statt nur die Symptome zu behandeln, könnte es künftig möglich sein, direkt an den Nervenzellen anzusetzen. Wenn der A-Typ-Kaliumstrom künstlich aktiviert wird, könnte das die überreizten Nervenzellen beruhigen und das Schmerzgedächtnis stoppen, bevor es sich festsetzt.

Schmerzbehandlung könnte individueller werden

Akuter und chronischer Schmerz funktionieren völlig unterschiedlich. Trotzdem bekommen viele Betroffene ähnliche Medikamente – oft mit begrenztem Erfolg. Künftig könnten Schmerzmittel gezielter eingesetzt werden. Wer in einem frühen Stadium den Ausfall des Bremssystems erkennt, könnte rechtzeitig eingreifen.

Ein solcher personalisierter Ansatz wäre nicht nur effektiver, sondern könnte auch helfen, Nebenwirkungen zu vermeiden. Die neuen Erkenntnisse liefern dafür eine wichtige Grundlage. Sie zeigen, dass chronischer Schmerz nicht einfach „eingebildet“ oder psychosomatisch ist – sondern das Ergebnis messbarer Prozesse im Gehirn.

Kurz zusammengefasst:

  • Der A-Typ-Kaliumstrom bremst bei akutem Schmerz überaktive Nervenzellen im Hirnstamm und verhindert so eine übermäßige Schmerzreaktion.
  • Bei chronischem Schmerz bleibt dieser Strom aus, die Nervenzellen im Gehirn feuern dauerhaft weiter – auch ohne erkennbare Ursache.
  • Die Studie legt nahe, dass sich durch gezielte Aktivierung des A-Typ-Kaliumstroms neue Therapien entwickeln lassen, die chronische Schmerzen frühzeitig stoppen könnten.

Übrigens: Bluthochdruck, Diabetes oder Durchblutungsstörungen können das Gehirn schneller altern lassen – oft, ohne dass man es sofort bemerkt. Wie stark die sogenannte „Brain Age Gap“ die geistige Leistungsfähigkeit beeinflusst, zeigt eine neue Studie. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert