Nach Kalbung pressen „Unterwasser-Tsunamis“ warmes Wasser an Grönland-Gletscher und beschleunigen Eisschmelze

Kalbung in Grönlands Fjorden löst Unterwasserwellen aus, die warmes Tiefenwasser an die Eiswand tragen und die Eisschmelze beschleunigen.

Grönland: Gletscher-Kalbung löst Unterwasser-„Tsunamis“ aus

Drei Kilometer Kalbungsfront am Eqalorutsit Kangilliit Sermiat: Ein Glasfaserkabel liegt wenige Hundert Meter vor der Eiswand im 300 Meter tiefen Fjord; vorn misst das UZH-Radar Kalbungen und Eisbewegungen. © Andreas Vieli / Universität Zürich

Das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds beschleunigt sich durch Eisberg-Kalbung: Brechen am Gletscherende riesige Blöcke, entstehen an der Oberfläche und darunter starke Wellen, die warmes Meerwasser nach oben wuchten und an die Eiswand drücken. Dort frisst die Wärme am Fuß der Wand, unterhöhlt das Eis und macht neue Abbrüche wahrscheinlicher – die Schmelze zieht weiter an.

Schweizer Wissenschaftler legten ein zehn Kilometer langes Glasfaserkabel auf den Meeresboden – direkt vor die kalbende Gletscherfront in Südgrönland. Das Kabel wirkte wie tausende kleine Sensoren und misst laufend Vibrationen und Temperatur. Der Messort heißt Eqalorutsit Kangilliit Sermiat. Federführend war die Universität Zürich, zusammen mit Partnern aus den USA und der Schweiz.

Die Messungen der Schweizer Forscher haben es im August auf die Titelseite von Nature geschafft. Für Deutschlands Nord- und Ostseeküste bedeuten die Zahlen in der Realität: schnellerer Meeresspiegelanstieg, höhere Sturmflutpegel und deutlich teurerer Küstenschutz.

Unsichtbare Wellen mischen Fjordwasser – und erhöhen die Schmelzrate messbar

Was passiert da in Grönland? Kalbung setzt eine Prozesskette in Gang. Zuerst rollen an der Oberfläche kräftige Wellen über den Fjord. Wichtiger sind jedoch interne Schwerewellen zwischen dichteren und leichteren Wasserschichten. Sie heben und senken die Temperaturlagen wie ein Pumpwerk. Warmes Tiefenwasser erreicht immer wieder die Eiswand – auch dann, wenn die Oberfläche längst ruhig wirkt. So steigt die Schmelzrate, und neue Abbrüche werden wahrscheinlicher.

Die Forscher beobachteten Oberflächenwellen mit bis zu 1,6 Metern (Wellentrog bis -kamm) und vertikale Verschiebungen der Temperatur-Schichten von rund 60 Metern. Aus diesen Mustern leiteten sie zusätzliche Unterwasserschmelze ab, lokal bis etwa 1 Meter pro Tag – fern der sichtbaren Schmelzwasser-Fontänen.

Unterwasserwellen treiben Wärme hoch – in Grönland schmelzen Gletscher nach Kalbung deutlich schneller

Die Messkette zeigt das „Wie“ im Detail: Erst entstehen Mikrorisse, dann löst sich Eis, anschließend setzen Oberflächen- und Unterwasserwellen ein. Daraus ergeben sich Strömungsspitzen unmittelbar an der Eisfront. „Das wärmere Wasser verstärkt die schmelzbedingte Erosion des Eises an der senkrechten Gletscherwand. Das erhöht wiederum die Kalbungsrate und den Massenverlust der Eisschilde,“ erklärt Co-Autor Andreas Vieli von der Universität Zürich. Erstautor Dominik Gräff ergänzt: „Das Glasfaserkabel hat es ermöglicht, diesen Kalbungs-Multiplikator erstmals zu messen – zuvor war das nicht möglich.“

Bisherige Rechenmodelle berücksichtigten die starken Wellen unter der Oberfläche kaum. Deshalb fiel die Unterwasserschmelze oft zu niedrig aus. Die neue Auswertung liefert genau diese fehlenden Werte. So konnte gemessen werden, wie viel Wärme die Wellen an die Eiswand tragen. Damit lassen sich die Schmelzraten realistischer berechnen.

Frühwarnfenster im Fjord – kurz, aber nützlich

Große Abbrüche erzeugen kurze Oberflächenwellen, ähnlich kleinen Tsunamis. Das Glasfaserkabel erkennt solche Wellen sofort. Es zeigt auch, wo sie entstanden sind. In dem untersuchten Fjord bleiben rund zwei Minuten Vorwarnzeit auf etwa drei Kilometern. Das hilft Häfen, Siedlungen und Einsatzkräften in bewohnten Fjorden.

Die Messkette kommt ohne riskante Einsätze an der Eiswand aus. Sie erfasst Daten im Sekundentakt und an vielen Punkten zugleich. Radar, Tidenpegel und Kameras ergänzen die Messung.

Dominik Gräff, links, im Zodiak auf dem Weg zum Ufer in Südgrönland – unterwegs zur Messkampagne mit dem Glasfaserkabel. © Julia Schmale/EPFL
Dominik Gräff, links, auf dem Weg zum Ufer in Südgrönland – unterwegs zur Messkampagne mit dem Glasfaserkabel. © Julia Schmale/EPFL

Grönland-Daten fließen jetzt direkt in die Planung

Die neuen Messungen verändern, wie Gletscher, Meeresspiegel und Küsten künftig berechnet werden. Auf Grundlage der Züricher Daten lassen sich Modelle, Schutzstrategien und Messnetze gezielter weiterentwickeln:

  • Modelle anpassen: Unterwasser-Schwerewellen gehören künftig in Gletscher– und Meeresspiegelmodelle. Ohne sie bleibt die Rechnung unvollständig.
  • Küsten schützen: Planer brauchen Schmelzraten, die Vorgänge unter Wasser mitrechnen. So lassen sich Risiken besser bewerten.
  • Messnetze ausbauen: Glasfaser lässt sich dauerhaft verlegen und mit Radar sowie Pegeln koppeln. Das ermöglicht Forschung und Frühwarnung.

Damit wird Forschung unmittelbar anwendbar – von den Gletscherfjorden Grönlands bis zu den Deichen an Nord- und Ostsee.

Kurz zusammengefasst:

  • Gletscher-Kalbung auf Grönland erzeugt sogenannte kalbungsinduzierte Tsunamis (an der Oberfläche) und innere Unterwasserwellen; sie bringen warmes Tiefenwasser an die Eiswand und beschleunigen die Schmelze.
  • Ein 10 Kilometer langes Glasfaserkabel hat diese Wellen direkt gemessen: oben bis 1,6 Meter hoch, unter Wasser verschieben sie Temperaturschichten um rund 60 Meter.
  • So werden bisher fehlende Schmelzanteile erklärt; zugleich bietet der Fjord etwa zwei Minuten Vorwarnzeit auf rund drei Kilometern – hilfreich für Planung und Küstenschutz.

Übrigens: In Grönland sprengte ein 21-Quadratkilometer-Schmelzwassersee den 79°N-Gletscher auf – Wasser schoss in die Tiefe, hob das Eis an und riss breite Spalten auf. Das macht den Gletscher instabiler und beschleunigt den Abfluss ins Meer – mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Andreas Vieli / Universität Zürich

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert