Wenn Darmbakterien kriminell machen – Wie das Mikrobiom unser Verhalten heimlich steuert
Darmbakterien beeinflussen unser Verhalten. Forscher sehen einen möglichen Zusammenhang mit Kriminalität und fordern neue Therapieansätze.

Darmbakterien beeinflussen mehr als nur die Verdauung – sie könnten sogar mitentscheiden, ob ein Mensch kriminell handelt oder nicht. © Vecteezy
Ein Mann aus Belgien kracht gleich zweimal gegen denselben Laternenmast – mit vier Promille im Blut. Doch er hatte keinen Alkohol getrunken. Drei Mal wird er wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen. Drei Mal beteuert er, nüchtern gewesen zu sein. Und tatsächlich: Ärzte diagnostizieren bei ihm das sogenannte Auto-Brewery-Syndrom. Eine seltene Störung, bei der Mikroben im Darm Kohlenhydrate in Alkohol umwandeln. Der Mann wird freigesprochen. Was wie ein medizinischer Ausnahmefall klingt, rückt nun ins Zentrum einer wissenschaftlichen Debatte. Forscher beschreiben in einem Artikel in der Fachzeitschrift Microbial Biotechnology, wie eng Darmbakterien und Kriminalität zusammenhängen könnten. Denn die winzigen Mikroben im Körper beeinflussen nicht nur die Verdauung – sondern womöglich auch unser Denken, unsere Impulskontrolle und unser strafbares Handeln.
Darmbakterien beeinflussen Entscheidungen
Der menschliche Körper ist ein riesiger Lebensraum für Mikroorganismen. Trillionen Bakterien, Pilze und Viren leben vor allem im Darm. Diese kleinen Lebewesen beeinflussen nicht nur die Verdauung oder das Immunsystem. Sie kommunizieren auch mit dem Gehirn.
Mikroben kontrollieren uns mehr, als wir denken.
Mikrobiologin Emma Allen-Vercoe von der University of Guelph in Kanada
Studien zeigen, dass bestimmte Bakterien Neurotransmitter wie Serotonin und GABA produzieren können – Stoffe, die Gefühle, Reaktionen und Verhalten direkt beeinflussen.
Kurze Fettsäuren, große Wirkung
Kurzkettige Fettsäuren wie Propionsäure, die beim Abbau von Ballaststoffen entstehen, können aggressives Verhalten begünstigen. Auch Parasiten wie Toxoplasma gondii verändern das Verhalten von Tieren – Mäuse etwa verlieren ihre Angst vor Katzen. Beim Menschen wird der Parasit mit Impulsivität, Aggression und sogar Suizidalität in Verbindung gebracht. Die genauen Zusammenhänge sind aber noch nicht vollständig geklärt.
Das zeigt: Der Einfluss von Mikroben auf unsere Psyche ist kein Randthema. Er reicht bis ins Zentrum unseres Verhaltens. Und in manchen Fällen möglicherweise bis vor den Richter.
Kriminalität durch Darmbakterien: Auto-Brewery-Syndrom auch vor US-Gericht bestätigt
Die Zahl der dokumentierten Fälle, die im Zusammenhang mit dem Auto-Brewery-Syndrom stehen, wächst. Auch in den USA wurde ein Mann freigesprochen, dessen Körper dadurch Alkohol produziert hatte. Ein Arzt wies nach, dass bestimmte Hefepilze und Bakterien – darunter Candida und Klebsiella pneumoniae – für die Alkoholwerte im Blut verantwortlich waren.
„Für die Person, die nicht weiß, dass sie Auto-Brewery-Syndrom hat, wirken die Mikroben wie ein Marionettenspieler“, sagt die Immunologin Susan Prescott. Wer unter ihrer Kontrolle handelt, könne schwerlich für alles verantwortlich gemacht werden.
Gewalt, Sucht, Impulse: Was das Mikrobiom verrät
In Untersuchungen an Gefängnisinsassen fanden Forscher auffällige Unterschiede im Darmmikrobiom. Frauen mit impulsivem oder gewalttätigem Verhalten hatten häufiger bestimmte Bakterienarten im Darm als andere. Auch bei Männern mit Suchtproblemen oder Aggressionen gab es Hinweise auf eine veränderte Zusammensetzung der Mikroben.
Noch sind diese Daten nicht eindeutig. Aber sie werfen Fragen auf: Ist kriminelles Verhalten in manchen Fällen auch eine Frage der Biologie? Und könnten Therapien am Mikrobiom helfen, Rückfälle zu vermeiden?
Neue Therapien statt reiner Strafe?
Forscher sprechen inzwischen vom „Legalom“ – einem Ansatz, der mikrobiologische Erkenntnisse in die Strafjustiz einbeziehen will. Dabei geht es nicht um Freisprüche auf Verdacht, sondern um besseres Verstehen und gezieltere Behandlung. Erste Studien mit Stuhltransplantationen zeigen, dass sich bei Patienten mit Autismus, Depression oder Alkoholabhängigkeit das Verhalten verbessern kann.
Susan Prescott sagt: „Wir könnten an einen Punkt kommen, an dem mikrobielle Eingriffe Teil von Therapieprogrammen werden.“ Denkbar wären Programme für Straftäter, die das Mikrobiom gezielt verändern – etwa durch Ernährung, Probiotika oder Transplantationen.
Zwischen Schuld und Steuerung
Doch wie viel Verantwortung kann man jemandem noch zuschreiben, wenn Mikroben im Spiel sind? Die Forschung steht erst am Anfang. Allen-Vercoe warnt davor, aus dem Mikrobiom eindeutige Rückschlüsse auf kriminelles Verhalten zu ziehen. „Ich glaube nicht, dass man sagen kann: Du hast Bakterium X – also bist du ein Serienmörder.“
Klar ist aber: Das Mikrobiom beeinflusst unser Gehirn auf vielen Wegen. Es verändert die Nährstoffaufnahme, reguliert Immunreaktionen, beeinflusst das Hormonsystem und aktiviert Nervenverbindungen zum Gehirn.
Gerichte ohne Fachwissen
Ein weiteres Problem: Richter kennen sich mit diesen komplexen Zusammenhängen oft nicht aus. Viele Entscheidungen basieren auf persönlichen Überzeugungen statt wissenschaftlichen Grundlagen. Was im Darm passiert, könnte künftig also nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für rechtliche Entscheidungen von Bedeutung sein.
Kurz zusammengefasst:
- Mikroben können Alkohol im Körper produzieren, was bei seltenen Fällen wie dem Auto-Brewery-Syndrom zu fälschlichen Trunkenheitsfahrten führt.
- Darmbakterien beeinflussen über Botenstoffe, Immunreaktionen und Nervensignale das Verhalten – bis hin zu Impulsivität, Aggression und Kriminalität.
- Wissenschaftler fordern, Erkenntnisse aus der Mikrobiomforschung stärker in Justiz und Therapie einzubeziehen, um Ursachen besser zu verstehen und neue Wege zur Prävention und Rehabilitation zu eröffnen.
Übrigens: Auch bei Autismus spielt der Darm eine größere Rolle, als lange angenommen. Forscher der USC haben entdeckt, dass Darmbakterien direkt das Verhalten von Kindern mit Autismus beeinflussen – über Stoffwechselprodukte, die das Gehirn erreichen. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Vecteezy
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