Das Gehirn braucht keine Augen oder Ohren – wie es völlig neue Signale direkt lernt

Ein neues Gehirnimplantat überträgt Informationen per Licht direkt ins Gehirn – das Gehirn lernt künstliche Sinneseindrücke ohne Sinnesorgane.

Ein dünnes, flexibles Gehirnimplantat liegt neben einer Münze zum Größenvergleich und sendet Lichtmuster aus, die Informationen direkt ins Gehirn übertragen.

Das Gehirnimplantat liegt zum Größenvergleich neben einer Münze. Es sendet gezielte Lichtmuster aus, um Informationen direkt an Nervenzellen im Gehirn zu übertragen. © Mingzheng Wu / Northwestern University

Forschern ist es gelungen, Informationen direkt ins Gehirn zu senden – mithilfe von Licht. Ein neu entwickeltes Gehirnimplantat umgeht klassische Sinneswege wie Augen, Ohren oder Haut und überträgt Signale unmittelbar an Nervenzellen. Das Gehirn kann diese Signale erlernen und als neue Wahrnehmung nutzen. Entwickelt wurde die Technik von Wissenschaftlern der Northwestern University.

Das Implantat ist weich, flexibel und vollständig drahtlos. Es liegt unter der Kopfhaut auf dem Schädel und muss nicht ins Gehirn eingeführt werden. Von dort aus sendet es gezielt gesteuerte Lichtmuster durch den Knochen. Diese aktivieren bestimmte Gruppen von Nervenzellen in der Hirnrinde und erzeugen künstliche Sinneseindrücke.

Gehirnimplantat umgeht klassische Sinneswege

Der technische Ansatz unterscheidet sich deutlich von bisherigen Verfahren. Das System nutzt keine Sinnesnerven und keinen Umweg über Augen, Ohren oder Haut. Stattdessen spricht es Nervenzellen direkt an. Informationen gelangen so über einen neuen Kanal ins Gehirn. Die Lichtsignale bestehen aus kurzen, exakt abgestimmten Impulsen. Sie folgen festgelegten Mustern, die sich gezielt verändern lassen. Für das Gehirn sind diese Muster zunächst ungewohnt. Mit Training kann es sie jedoch einordnen und nutzen.

Neurobiologin Yevgenia Kozorovitskiy beschreibt den Kern der Arbeit so: „Unsere Gehirne verwandeln ständig elektrische Aktivität in Erlebnisse – und diese Technologie gibt uns einen direkten Zugang zu diesem Prozess.“ Das System ermögliche es, „völlig neue Signale zu erzeugen und zu beobachten, wie das Gehirn lernt, sie zu nutzen“.

Gehirnimplantat steuert Verhalten über künstliche Reize

Getestet wurde das Implantat an Mäusen. Ihre Nervenzellen waren genetisch so verändert, dass sie auf Licht reagieren. Während der Experimente erhielten die Tiere definierte Lichtmuster direkt in der Hirnrinde.

Die Mäuse lernten, diese Muster voneinander zu unterscheiden. Traf das richtige Signal ein, steuerten sie gezielt einen bestimmten Ort an, um eine Belohnung zu erhalten. Das funktionierte zuverlässig – auch ohne jeden klassischen Sinneseindruck.

Erstautor Mingzheng Wu erklärt den Nachweis: „Indem das Tier konsequent den richtigen Port auswählte, zeigte es, dass es die Botschaft empfangen hatte.“ Sprache sei dafür nicht nötig. „Da sie nicht sprechen können, kommunizieren sie über ihr Verhalten.“

Fein steuerbare Lichtsignale im neuronalen Netzwerk

Wahrnehmung entsteht im Gehirn nicht im Sinnesorgan selbst, sondern in Netzwerken von Nervenzellen. Genau dort setzt die Technik an. Das Implantat arbeitet mit einem Feld aus bis zu 64 winzigen Leuchtdioden, sogenannten Micro-LEDs.

Jede dieser LEDs lässt sich einzeln steuern. Helligkeit, Frequenz und zeitliche Abfolge variieren. So entstehen komplexe Aktivitätsmuster, die natürlicher Hirnaktivität ähneln. „Die Anzahl der Muster, die wir erzeugen können, ist nahezu unbegrenzt“, so Wu.

Für das Gehirn wirken diese Signale nicht wie Störungen. Mit Training lassen sie sich einordnen und nutzen. Wahrnehmung erweist sich damit als erstaunlich lernfähig.

Kompaktes Design mit möglichst geringem Eingriff

Trotz der Technik bleibt das Implantat klein. Es ist etwa briefmarkengroß und dünner als eine Kreditkarte. Statt einer Sonde im Gehirn liegt es flach auf dem Schädel. Das Licht scheint durch den Knochen.

Zum Einsatz kommt rotes Licht. „Rotes Licht dringt sehr gut in Gewebe ein. Es reicht tief genug, um Neuronen durch den Schädel zu aktivieren“, erklärt Kozorovitskiy. Der Eingriff bleibt dadurch vergleichsweise schonend.

Ein weiterer Vorteil liegt im Aufbau. Das System arbeitet vollständig drahtlos und benötigt keine Batterie. Es lässt sich in Echtzeit programmieren und anpassen.

Wo das Gehirnimplantat eingesetzt werden könnte

Während der Versuche zeigte sich kein messbarer Einfluss auf das natürliche Verhalten der Tiere. John A. Rogers, verantwortlich für die technische Entwicklung, sagt: „Wir haben ein System geschaffen, das vollständig unter der Haut bleibt und in Echtzeit gesteuert werden kann.“ Ziel sei eine Schnittstelle zum Gehirn ohne störende Kabel oder externe Geräte.

Langfristig sehen die Forscher mehrere medizinische Einsatzfelder:

  • Prothesen könnten künftig wieder ein Gefühl für Druck oder Position vermitteln.
  • In der Rehabilitation nach Schlaganfällen oder Verletzungen könnten gezielte Lichtsignale das Wiederlernen bestimmter Fähigkeiten unterstützen.

Auch die Schmerztherapie gilt als mögliches Anwendungsfeld. Statt Medikamente einzusetzen, ließe sich das Schmerzempfinden gezielt beeinflussen. Kozorovitskiy gibt sich zuversichtlich: „Diese Technologie bringt uns ein Stück näher daran, verlorene Sinne nach Verletzungen oder Krankheiten wiederherzustellen.“

Das neue Gehirnimplantat erzeugt in einer Demonstration Lichtmuster nach dem Vorbild des Spiels Tetris. Die Technik soll künftig unter anderem Prothesen mit Sinnesrückmeldung versorgen, Schmerzen beeinflussen und die Rehabilitation nach Schlaganfällen unterstützen. © YouTube

Kurz zusammengefasst:

  • Ein Gehirnimplantat kann Licht-Signale direkt an Nervenzellen senden und dem Gehirn so völlig neue, künstliche Wahrnehmungen vermitteln – ganz ohne Augen, Ohren oder Haut.
  • In Tierversuchen lernten Mäuse, diese Lichtmuster als sinnvolle Informationen zu erkennen und für Entscheidungen zu nutzen, was zeigt, dass Wahrnehmung im Gehirn erlernbar ist.
  • Die Technik gilt als Grundlage für neue medizinische Anwendungen, etwa fühlende Prothesen, bessere Rehabilitation nach Schlaganfällen oder eine gezielte Schmerzbehandlung ohne Medikamente.

Übrigens: Neue Forschung zeigt, dass das menschliche Gedächtnis Informationen am effizientesten verarbeitet, wenn es auf etwa sieben Sinneseindrücke gleichzeitig zurückgreift. Warum diese Zahl entscheidend ist und was das für Lernen und künstliche Intelligenz bedeutet, mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Mingzheng Wu / Northwestern University

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