Weltweiter Hunger nimmt zu – und die UN zählt Millionen Betroffene nicht mit
Der weltweite Hunger ist größer als UN-Daten zeigen – Millionen Betroffene fehlen in den offiziellen Statistiken.
Ein realistisches Bild des weltweiten Hungers entsteht nur, wenn die Zahl der Bedürftigen genau erfasst wird. © Unsplash
Die Vereinten Nationen gelten als wichtigste Instanz, wenn es darum geht, den Hunger auf der Welt zu erfassen. Ihre Daten entscheiden darüber, wohin Milliarden an Hilfsgeldern fließen und welche Regionen Nahrungsmittel, medizinische Hilfe oder Trinkwasser erhalten. Doch genau dieses System steht nun in der Kritik. Eine neue Studie zeigt: Die offiziellen Zahlen sind zu niedrig und weltweiter Hunger wird massiv unterschätzt.
Ein internationales Forschungsteam hat das UN-System zur Bewertung von Ernährungskrisen, das Integrated Food Security Phase Classification System (IPC), genauer untersucht. Es dient Regierungen und Hilfsorganisationen als Grundlage, um Hilfsgüter zu verteilen und Krisenregionen zu priorisieren. Das Ergebnis der Analyse ist alarmierend: Millionen Betroffene tauchen in den Statistiken gar nicht auf.
Millionen Betroffene werden übersehen
Zwischen 2017 und 2023 werteten die Forscher Daten von über 917 Millionen Menschen in 33 Ländern aus. Insgesamt untersuchten sie rund 10.000 regionale Bewertungen. Die Unterschiede sind gravierend: Laut offiziellen UN-Zahlen gelten 226 Millionen Menschen als akut von Hunger bedroht, die neuen Berechnungen kommen jedoch auf 293 Millionen. Somit fehlen 66 Millionen Menschen, also etwa jeder Fünfte, in den globalen Statistiken.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass das aktuelle System Hungerkrisen systematisch unterschätzt“, sagt Kathy Baylis von der University of California, Santa Barbara. Diese Zahlen seien entscheidend, betont sie: „Denn sie lösen die Finanzierungsmechanismen für Notfallhilfen aus.“
Zu konservative Bewertungen im UN-System
Das IPC teilt Regionen in fünf Stufen ein – von „keine oder minimale Unsicherheit“ bis „Hungersnot“. Entscheidend ist der Anteil der Bevölkerung, der sich in einer akuten Ernährungskrise befindet. Ab 20 Prozent greift internationale Hilfe. Genau hier stellten die Forscher eine Häufung bei 15 bis 19 Prozent fest – knapp unterhalb der Grenze, ab der Hilfsgelder freigegeben werden.
Diese Muster deuten darauf hin, dass lokale Fachgremien bewusst zurückhaltend einstufen. Viele Mitglieder fürchten, zu hohe Zahlen könnten Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit wecken. Doch jede zu niedrige Einstufung kann bedeuten, dass Hilfe zu spät kommt.
Weltweiter Hunger: Fehlende Daten führen zu Fehleinschätzungen
Die größten Ungenauigkeiten entstehen dort, wo Daten fehlen oder sich widersprechen – etwa in Konfliktregionen oder schwer zugänglichen Gebieten. Wenn Informationen über Ernährung, Preise oder Versorgung unvollständig sind, neigen Analysten laut Studie dazu, vorsichtiger zu rechnen.
Die Studienautoren sprechen von einem „konservativen Bias“. Unsichere Daten führen also zu Zurückhaltung, was wiederum Fehlentscheidungen begünstigt. In 25 von 27 untersuchten Ländern fanden die Wissenschaftler Anzeichen für systematische Unterschätzungen.
46 Prozent der Regionen falsch bewertet
Rund 46 Prozent der Regionen, die offiziell als „mäßig betroffen“ gelten, müssten laut Studie eigentlich in den Stufen „Krise“ oder „Notfall“ eingeordnet werden. Das betrifft vor allem Afghanistan, den Jemen und Madagaskar, wo die Versorgung ohnehin labil ist.
Die Forscher verglichen die UN-Bewertungen mit Indikatoren wie Nahrungsmittelpreisen, Ernährungsvielfalt und Bewältigungsstrategien. In fast allen Fällen lag der Anteil der Hungernden niedriger als die Daten nahelegten. Wenn verschiedene Messgrößen voneinander abwichen, entschieden sich die Gremien meist für die niedrigere Schätzung.
Milliardenhilfen basieren auf fehlerhaften Daten
Das IPC-System steuert jedes Jahr die Verteilung von mehr als sechs Milliarden US-Dollar. Es bestimmt, welche Länder Nahrungsmittelhilfe, Wasserprojekte oder medizinische Unterstützung erhalten. Fehlerhafte Daten führen zwangsläufig zu falschen Prioritäten. Die Forscher berechneten mehrere Szenarien:
- In einer konservativen Variante fehlen 66 Millionen Hungernde in den UN-Statistiken.
- Nach einem strengeren Bewertungsansatz („Right to Food“) wären es sogar über 488 Millionen – mehr als doppelt so viele.
Diese Unterschiede zeigen, wie empfindlich das System auf kleinste Bewertungsentscheidungen reagiert.
Politischer Druck und mangelnde Transparenz
Die Sitzungen der Bewertungsgremien finden hinter verschlossenen Türen statt. Das erschwert die Nachvollziehbarkeit ihrer Entscheidungen. Hinzu kommt politischer Druck: Regierungen möchten oft verhindern, dass ihre Länder in höheren Krisenstufen erscheinen – um internationale Kritik zu vermeiden.
„Wenn verschiedene Indikatoren widersprüchliche Werte liefern, neigen viele Expertinnen und Experten dazu, den geringeren Wert zu wählen“, erklärt Baylis. „So verschwinden Millionen Menschen aus den Zahlen – und damit auch aus den Hilfsplänen.“
Weltweiter Hunger realistischer erfassen durch moderne Methoden
Laut UN waren 765 Millionen Menschen im Jahr 2023 unterversorgt, 282 Millionen davon akut. Doch selbst diese Zahlen liegen offenbar zu niedrig. Bereits jetzt besteht eine Finanzierungslücke von bis zu 53 Prozent zwischen Bedarf und verfügbaren Mitteln. Steigt die Zahl der Hungernden weiter, wird diese Lücke noch größer.
Die Autoren fordern mehr Transparenz, eine bessere Datenbasis und moderne Analysemethoden. Nur so lässt sich der weltweite Hunger realistisch erfassen – und Hilfe dort einsetzen, wo sie am dringendsten gebraucht wird.
Kurz zusammengefasst:
- Weltweiter Hunger wird laut einer neuen Studie vom UN-System zur Erfassung von Ernährungskrisen deutlich unterschätzt – rund 66 Millionen Menschen fehlen in den Statistiken.
- Zwischen 2017 und 2023 werteten Forscher Daten von über 917 Millionen Menschen in 33 Ländern aus und fanden heraus, dass viele Regionen bewusst zu niedrig eingestuft werden, um Kritik oder Zweifel zu vermeiden.
- Laut Studie betrifft das Problem fast alle untersuchten Länder – und führt dazu, dass Milliarden an Hilfsgeldern nicht dort ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden.
Übrigens: Nicht nur Hungerkrisen werden unterschätzt – auch die Müttersterblichkeit ist höher als sie es beim heutigen Stand der Medizin sein dürfte. Laut WHO stirbt alle zwei Minuten eine Frau bei der Geburt. Mehr dazu in unserem Artikel.
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