In nur zwei Monaten verschwindet riesiger Gletscher in der Antarktis – Forscher warnen vor gefährlichem Kipppunkt
Der Hektoria-Gletscher in der Antarktis zog sich in atemberaubendem Tempo zurück – rund 800 Meter pro Tag brach das Eis ins Meer, schneller als je zuvor beobachtet.
Blick auf den Hektoria-Gletscher aus einem NASA-Forschungsflug über der Antarktischen Halbinsel. © NASA/Nathan Kurtz
Es ist ein Vorgang, den Wissenschaftler bisher nur aus der Zeit des letzten Eiszeitalters kannten: Ein Gletscher in der Antarktis verliert binnen Wochen fast seine gesamte Front. Ende 2022 zog sich der Hektoria-Gletscher an der Ostküste des der Antarktischen Halbinsel um rund acht Kilometer zurück – der schnellste dokumentierte Eisverlust in der modernen Geschichte der Antarktis.
Die neue Studie der University of Colorado Boulder zeigt: Nicht steigende Luft- oder Wassertemperaturen waren der Auslöser, sondern der Boden unter dem Eis selbst. Die Gletscherzunge lag auf einem ungewöhnlich flachen Felsbett – einer sogenannten Eis-Ebene. Als sich der Gletscher im Verlauf des Jahres stark ausdünnte, verlor er den Kontakt zum Untergrund. Das Eis begann zu schwimmen, kippte – und zerbrach in riesige Stücke, die ins Meer drifteten.
Wenn der Boden unter dem Eis verschwindet
Experten sehen darin keinen Einzelfall, sondern ein mögliches Warnzeichen für die Antarktis. Denn viele Gletscher der Antarktis ruhen auf ähnlichen flachen Untergründen. Wenn sie durch Erwärmung oder den Verlust von schützendem Meereis an Dicke verlieren, kann derselbe Mechanismus ausgelöst werden – mit dramatischen Folgen für den Meeresspiegel.
Der Hektoria-Gletscher liegt in der Region des früheren Larsen-B-Schelfeises, das bereits 2002 kollabierte. Danach bildete sich dort über Jahre wieder festgefrorenes „Fast-Ice“, das den Gletscher stabilisierte. Doch Anfang 2022 brach auch diese Stützschicht auseinander. Nur wenige Monate später geriet das System aus dem Gleichgewicht.
Die Forscher beobachteten den Verlauf mit hochauflösenden Satellitenbildern, digitalen Höhenmodellen und seismischen Messungen. „Ich konnte die Weite des kollabierten Areals kaum fassen“, sagte Hauptautorin Naomi Ochwat. „Als ich das Ausmaß der Zerstörung sah, war ich überwältigt – ich konnte kaum glauben, wie viel Eis in so kurzer Zeit verschwunden war.“
Ein Gletscher kollabiert schneller als je zuvor
Im November und Dezember 2022 verlor Hektoria in nur acht Wochen rund 8,2 Kilometer Eisfront. Das entspricht einer Rückzugsrate von bis zu 800 Metern pro Tag – fast zehnmal schneller als frühere Werte. Auch das Tempo des Gletscherflusses nahm stark zu: Das Eis bewegte sich sechsmal schneller als zuvor, während die Eisdicke im selben Zeitraum um bis zu 80 Meter pro Jahr abnahm.
Diese plötzlichen Veränderungen zeigen, dass ein Gletscher nicht langsam „schmilzt“, sondern auch instabil werden kann, wenn die physikalische Balance kippt. Sobald das Eis aufschwimmt, verliert es seine Stütze – und der gesamte vordere Teil kann binnen Tagen ins Meer brechen.
Wie Forscher den Kollaps rekonstruieren konnten
Um das Ereignis genau zu rekonstruieren, kombinierten die Forscher Daten aus verschiedenen Quellen:
- Satellitenaufnahmen von Landsat, Sentinel und WorldView, um das tägliche Vorrücken und Zurückweichen der Eisfront zu verfolgen
- Radar- und Höhenmessungen, die Aufschluss über Dicke, Geschwindigkeit und Bodenkontakt des Gletschers gaben
- Seismische Sensoren, die Gletscher-Erdbeben aufzeichneten – sie entstanden, als Eisberge beim Abbrechen kippten und gegen den Gletscherfuß prallten
Sechs dieser Erdbeben ereigneten sich genau in der Phase des rapiden Rückzugs. Ihre Signale bestätigten, dass der Gletscher zu dieser Zeit noch fest auflag – der Eisverlust betraf also geerdetes Eis und beeinflusste den Meeresspiegel unmittelbar.
Warum der Untergrund das Schicksal bestimmt
Die Autoren sprechen von einem „auftriebsgetriebenen Kalbungsprozess“. Das bedeutet: Wenn ein Gletscher über einer Eis-Ebene liegt, also über einer flachen Vertiefung unterhalb des Meeresspiegels, kann er bei geringem Dickenverlust aufschwimmen. Dann drückt der Auftrieb das Eis nach oben, bis es bricht und in riesigen Blöcken ins Meer kippt.
Mitautor Ted Scambos beschreibt den Vorgang so: „Der Rückzug von Hektoria ist ein Schock – diese blitzartige Dynamik verändert, was für andere, größere Gletscher auf dem Kontinent möglich ist.“ Solche Prozesse, ergänzt er, könnten den globalen Meeresspiegel deutlich schneller steigen lassen, als bisher angenommen.
Antarktis-Gletscher mit ähnlicher Struktur
Hektoria ist mit etwa 300 Quadratkilometern zwar kein riesiger Eisstrom, aber ein Warnsignal. Denn Eis-Ebenen existieren auch unter anderen, wesentlich größeren Gletschern – etwa unter dem Pine-Island- oder Thwaites-Gletscher, die den westantarktischen Eisschild stabilisieren. Wenn sie in eine ähnliche Instabilität geraten, könnte das den Meeresspiegel weltweit um mehrere Meter erhöhen.
Für die Forscher steht fest: Die bisherige Klimamodelle müssen solche Untergrundformen stärker berücksichtigen. Die Studie liefert erstmals konkrete Messwerte, wie schnell eine Eis-Ebene kippen kann, wenn ihre Stütze verschwindet.
Karten unter dem Eis werden zur Schlüsselfrage
Das Team fordert, die Topografie unter dem antarktischen Eis genauer zu kartieren. Nur so lassen sich Regionen identifizieren, in denen sich ein schneller Rückzug anbahnt. Besonders wichtig ist die Kombination von Satellitendaten mit seismischen Messungen – sie zeigt nicht nur, dass Eis verschwindet, sondern auch, warum.
Die Forscher schlagen vor, ein engmaschiges Überwachungsnetz aufzubauen, um künftige Kipppunkte rechtzeitig zu erkennen. So könnten Frühwarnsysteme entwickelt werden, die gefährdete Regionen markieren – ähnlich wie bei Lawinen- oder Hochwasserprognosen.
Kurz zusammengefasst:
- Der Hektoria-Gletscher in der Antarktis zog sich in nur zwei Monaten um acht Kilometer zurück – schneller als je zuvor gemessen.
- Ursache war eine flache Gesteinsschicht unter dem Eis, die den Gletscher aufschwimmen und anschließend kollabieren ließ.
- Experten zufolge könnten ähnliche Bedingungen auch bei größeren Gletschern zu plötzlichen Eisverlusten und steigendem Meeresspiegel führen.
Übrigens: Eine neue KI kann inzwischen genau berechnen, wo und wie schnell das Eis in der Antarktis schmilzt – und warum herkömmliche Modelle den Meeresspiegelanstieg bislang unterschätzen. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © NASA/Nathan Kurtz, NASA Goddard Space Flight Center via Wikimedia unter CC BY 2.0
