Deutsche Forscher entwickeln eine KI, die Krankheiten vorhersagt, die Sie in 20 Jahren bekommen
Ein KI-Modell aus München und Heidelberg berechnet mit Patientendaten das Risiko für über 1.000 Krankheiten – bis zu 20 Jahre im Voraus.

Bald könnte KI im Gespräch zwischen Arzt und Patient eine wichtige Rolle spielen – sie soll Krankheitsrisiken schon Jahrzehnte im Voraus berechnen. © Pexels
Wer heute gesund ist, könnte in 20 Jahren trotzdem mit schweren Diagnosen leben – von Krebs über Herzinfarkt bis hin zu Demenz. Doch was wäre, wenn sich dieses Risiko schon heute berechnen ließe? Genau daran arbeiten Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Gemeinsam haben sie ein Modell entwickelt, das die Medizin verändern könnte: Eine künstliche Intelligenz, die wahrscheinliche Krankheitsverläufe berechnet und Ärzte so auf mögliche Probleme vorbereitet.
Das Programm heißt Delphi-2M und wertet Millionen von Gesundheitsdaten aus. Auf dieser Basis erstellt es Szenarien für mehr als 1.000 verschiedene Krankheiten – und das über Jahrzehnte hinweg. Die Forscher nennen es eine Art Gesundheits-Orakel. „Es kann komplette zukünftige Gesundheitsverläufe generieren“, erklärt Stefan Feuerriegel von der LMU München laut Nature.
KI und Krankheiten: Risiko wird berechenbar
Anders als bisherige Programme, die meist nur eine einzelne Diagnose berechnen, kann Delphi-2M gleich mehrere Krankheiten gleichzeitig erfassen. Dadurch lassen sich typische Muster von Mehrfacherkrankungen erkennen – in der Medizin als Multimorbidität bekannt.
Die Treffsicherheit ist hoch: Im Schnitt liegt der Vorhersagewert (AUC) bei 0,76. Zum Vergleich: 0,5 entspräche reinem Zufall, 1 wäre eine perfekte Prognose. Besonders genau arbeitet das Modell beim Sterberisiko. Hier erreicht es 0,97 – ein Spitzenwert. „Die Leistung ist ähnlich gut wie bei etablierten Vorhersagemodellen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Demenz – und beim Todesrisiko sogar besser“, sagt Moritz Gerstung vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.
Millionen Daten für ein Modell
Die Grundlage bilden die Gesundheitsdaten von rund 400.000 Teilnehmern der britischen Biobank. Zusätzlich unterzogen die Forscher Delphi-2M einem Test mit 1,9 Millionen Krankenakten aus Dänemark. Das Ergebnis: Auch in einem anderen Land blieb die Genauigkeit hoch – wenn auch leicht abgeschwächt.
Das Modell verarbeitet dabei nicht nur Krankengeschichten. Es berücksichtigt auch Alter, Geschlecht, Gewicht sowie Lebensstilfaktoren wie Rauchen und Alkoholkonsum. So entsteht ein umfassendes Risikoprofil für jeden einzelnen Patienten.
Szenarien für 20 Jahre
Ein besonderer Vorteil: Delphi-2M kann Krankheitsverläufe bis zu 20 Jahre in die Zukunft berechnen. Bereits im ersten Jahr nach der Simulation stimmt die KI im Schnitt bei 17 Krankheitsereignissen. Nach 20 Jahren bleiben noch immer 14 Vorhersagen korrekt. Damit lassen sich selbst langfristige Risiken präzise einschätzen.
Außerdem generiert die KI synthetische Daten. Das bedeutet: Sie erschafft künstliche Krankheitsverläufe, die statistisch realistisch sind, aber keine echten Patientendaten enthalten. „Delphi-2M kann Daten erzeugen, die die typischen Muster von Krankheiten widerspiegeln, ohne persönliche Informationen preiszugeben“, heißt es in der Studie. Das schützt die Privatsphäre und schafft zugleich neues Material für weitere Forschung.
Was die Zahlen für die Zukunft bedeuten
Die Relevanz ist enorm. Prognosen zeigen, dass die Zahl der Krebserkrankungen weltweit bis 2050 um 77 Prozent steigen könnte. In Großbritannien wird erwartet, dass die Zahl schwerkranker Menschen im Arbeitsalter bis 2040 von drei auf 3,7 Millionen anwächst. Modelle wie Delphi-2M könnten helfen, auf solche Entwicklungen vorbereitet zu sein.
Für die Gesundheitssysteme bedeutet das: Frühzeitige Planung wird möglich. Behörden könnten besser abschätzen, wie viele Ärzte, Pflegekräfte oder Kliniken in Zukunft benötigt werden. Auch Prävention könnte gezielter erfolgen – etwa indem Menschen mit besonders hohem Risiko frühzeitig medizinisch begleitet werden.
Neue Möglichkeiten für Ärzte
Für Mediziner bietet die Technik gleich mehrere Vorteile. Sie können Risikopatienten schneller identifizieren, Therapien gezielter auswählen und Präventionsprogramme individueller gestalten. Besonders wichtig ist das bei Patienten, die mehrere Krankheiten gleichzeitig entwickeln. Hier stößt klassische Statistik schnell an ihre Grenzen, Delphi-2M aber kann die Wechselwirkungen abbilden.
Auch die Erweiterbarkeit überzeugt. Das Modell lässt sich ohne großen Aufwand mit zusätzlichen Daten füttern – etwa Blutwerten, genetischen Informationen oder Bewegungsdaten von Fitnessarmbändern. „Eine vielversprechende Eigenschaft ist die relative Einfachheit, weitere Daten einzubauen. Für Ärzte ist das sonst oft sehr aufwendig“, erklären die Forscher.
KI stößt bei wiederkehrenden Krankheiten an ihre Grenzen
Trotz aller Erfolge gibt es Einschränkungen. Die Datenbasis aus Großbritannien erfasst meist nur den ersten Kontakt mit einer Krankheit, nicht aber wiederkehrende Episoden. Gerade diese Informationen wären für präzise Verläufe wichtig. Auch die Übertragbarkeit auf andere Gesundheitssysteme muss weiter untersucht werden.
Zudem stellt sich die Frage, wie Ärzte, Patienten und Krankenkassen mit solchen Prognosen umgehen. Wenn eine KI ein erhöhtes Krebs- oder Demenzrisiko berechnet – wie soll das kommuniziert werden? Und welche Folgen hat das für Versicherungen oder die psychische Belastung der Betroffenen? Auf diese Fragen muss die Wissenschaft noch Antworten finden.
Kurz zusammengefasst:
- Das KI-Modell Delphi-2M kann mit Daten zu Krankengeschichte und Lebensstil das Risiko für über 1.000 Krankheiten bis zu 20 Jahre im Voraus berechnen.
- Die Genauigkeit liegt im Durchschnitt bei 0,76 AUC, beim Sterberisiko sogar bei 0,97 – damit ist die KI so gut oder besser als viele bestehende Systeme.
- Ärzte und Gesundheitssysteme könnten mit solchen Prognosen Risikopatienten früher erkennen, Therapien gezielter planen und Ressourcen vorausschauend einsetzen.
Übrigens: Eine neue KI bringt Forscher bei Viren und Alzheimer entscheidend voran. Sie macht sichtbar, wo Krankheiten entstehen – mehr dazu in unserem Artikel.
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