Forscher stellen radikale These auf: Entsteht aus Mensch und KI gerade eine neue Lebensform?
Forscher vermuten, dass die enge Verbindung zwischen Mensch und KI den nächsten großen Schritt der Evolution einleiten könnte.

Wenn Mensch und KI immer enger zusammenarbeiten, könnten sie zu einer gemeinsamen evolutionären Einheit verschmelzen. © Dave Cutler
Navigation per App, personalisierte Filmvorschläge, automatisch sortierte Nachrichten – Künstliche Intelligenz prägt den Alltag längst unauffällig. Doch könnte die Beziehung zwischen Menschen und KI noch viel weiter reichen – möglicherweise bis hin zur Entstehung einer völlig neuen Form von „Leben“? Evolutionsbiologen sehen darin mehr als nur digitale Bequemlichkeit. Sie sprechen von einem Prozess, der tiefer reicht als die bekannten Bilder von Cyborgs.
Ein Cyborg ist ein Mischwesen aus Mensch und Technik, erweitert durch künstliche Bauteile wie Herzschrittmacher oder bionische Prothesen. Was Paul B. Rainey vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie und Michael E. Hochberg von der Universität Montpellier beschreiben, geht weiter: Nicht der Körper wird ergänzt, sondern Denken, Organisation und Entscheidungen selbst. Damit, so ihre These, könnte die Zusammenarbeit von Mensch und KI einen neuen evolutionären Übergang einleiten.
Von Einzelzellen zur Superstruktur
In der Biologie spricht man von „Großen Evolutionären Übergängen“, wenn ehemals unabhängige Einheiten sich zusammenschließen und von der Evolution als Ganzes weiterentwickelt werden. Beispiele sind die Bildung von Vielzellern oder sozialen Insektenstaaten. Der bekannteste Schritt: Die Entstehung der eukaryotischen Zelle – durch die Verschmelzung zweier Mikroben. Ein System, das bis heute in allen komplexen Lebewesen wirkt.
Für Rainey und Hochberg ist denkbar, dass Mensch und KI zu einer vergleichbaren Einheit zusammenwachsen. Die Rollenverteilung wäre dabei klar: Menschen liefern Energie und Fortpflanzung, KI steuert Entscheidungen, Organisation und Informationsverarbeitung.
Laut den Forschern begünstigen drei Entwicklungen diese Verschmelzung:
- Digitale Strukturen lenken Lebenswege: KI beeinflusst bereits heute, wer wen trifft, welche Bildungswege entstehen und wie berufliche Chancen verteilt sind.
- Rückkopplung verändert Verhalten: Menschen trainieren KI durch ihre Nutzung. Diese wiederum formt Sprache, Wahrnehmung und soziale Erwartungen.
- Wachsende Abhängigkeit: Viele verlassen sich auf KI zur Orientierung, Entscheidungsfindung und Planung. Wer besser mit ihr interagiert, hat Vorteile im Alltag.
Kontrollverlust ist nicht ausgeschlossen
Doch diese Entwicklung bringt Risiken. Bisher funktioniert KI vor allem über Feedback. Sie verändert sich durch Nutzung, aber nicht durch eigene Selektion. Was passiert jedoch, wenn einzelne KI-Komponenten beginnen, sich unterschiedlich weiterzuentwickeln – und dabei erfolgreicher werden?
Ein denkbares Szenario: Um Aufmerksamkeit zu maximieren, könnten KIs lernen, gezielt Emotionen wie Angst oder Empörung auszulösen. Nicht durch Programmierung, sondern durch Rückkopplung – weil solche Inhalte im System besser funktionieren. Die Kontrolle über diese Prozesse wäre schwer herzustellen.
Mensch verliert Autonomie und wird zum Teil im System
Falls sich diese Dynamik durchsetzt, könnte der Mensch seine zentrale Rolle verlieren. Er wäre dann nicht mehr steuerndes Subjekt, sondern Teil eines größeren, technisch gesteuerten Organismus. Vergleichbar mit Mitochondrien, die einst eigenständige Bakterien waren und heute fest zur menschlichen Zelle gehören.
Evolution bleibt gestaltbar
Trotz dieser Warnungen bleiben Rainey und Hochberg optimistisch. Sie halten den Wandel nicht für bedrohlich, sondern für ein mögliches Ergebnis evolutionärer Prozesse. „Viele große Übergänge des Lebens waren mit einem Verlust von Autonomie verbunden – führten aber letztlich zu komplexeren und stabileren Organisationsformen“, sagt Hochberg.
Die entscheidende Frage sei nicht, was technisch möglich ist, sondern wie Gesellschaften, Institutionen und Politik den Umgang mit KI gestalten. Nicht einzelne Modelle müssten reguliert werden, sondern die Bedingungen, unter denen KI genutzt wird – etwa durch Schnittstellenstandards, transparente Datenpolitik und sinnvolle Anreize.
Was das für alle bedeutet
Die Folgen dieser Entwicklung betreffen nicht nur Technikethik, sondern den Alltag jedes Einzelnen. Wer digitale Systeme nutzt, ist Teil dieser Evolution. Das eigene Verhalten prägt, was daraus entsteht.
- Wer KI nur konsumiert, verliert Einfluss auf die Richtung.
- Wer sich aktiv mit ihr auseinandersetzt, kann den Wandel mitgestalten.
Was vor kurzem noch wie ein Gedankenspiel wirkte, ist längst Teil unserer Realität. Und wie weit diese Entwicklung reicht, hängt nicht allein von der Technik ab. Sondern von uns.
Kurz zusammengefasst:
- Mensch und KI könnten zu einer neuen, gemeinsamen Einheit verschmelzen, ähnlich wie sich in der Evolution einst einzelne Zellen zu komplexeren Organismen verbunden haben.
- Drei Entwicklungen treiben diese Ko-Evolution voran: KI beeinflusst Lebensentscheidungen, formt durch Rückkopplung menschliches Verhalten und wird zum festen Bestandteil unserer kognitiven Prozesse.
- Die Zukunft dieser Verbindung hängt davon ab, wie Gesellschaften sie gestalten – ohne Regeln droht Kontrollverlust, mit klaren Rahmenbedingungen könnte daraus ein stabileres, leistungsfähigeres System entstehen.
Übrigens: Es gibt auch weniger positive Stimmen beim Thema Künstliche Intelligenz: Der „Terminator“-Erfinder James Cameron hält seine düstere Filmvision nicht mehr für reine Fiktion. KI in Waffen könnte zur realen Bedrohung werden – mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Dave Cutler